Verfolgte Christenheit

Für die Christen in Europa, die weitgehend in Sicherheit leben, mag der Titel: „Verfolgte Christenheit" auf den ersten Blick befremdend oder überzogen klingen, und doch hat er seine Berechtigung. Denn weltweit werden Millionen Christen wegen ihres Glaubens benachteiligt oder verfolgt, in vielen Ländern zählen sie zu den am meisten gefährdeten Minderheiten.

Verläßliche Zahlen, die die globalen Vorkommnisse erfassen, sind jedoch kaum verfügbar. Nach Günther Nooke, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, sind 80 Prozent der Menschen, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden, Christen. Die „Deutsche Evangelische Allianz" (DEA), die „Internationale Gesellschaft für Menschenrechte" (IGFM; „International Society for Human Rights" - ISHR) sowie das „Aktionskomitee für verfolgte Christen" (AVC) sprechen davon, daß etwa 200 Millionen Christen schikaniert, benachteiligt und verfolgt werden. Allerdings ist diese Schätzung, die auch der CSU-Abgeordnete Alois Karl in den Sitzungen des Deutschen Bundestags am 30. November 2006 und am 24. Mai 2007 referierte und von „der größten Christenverfolgung aller Zeiten" sprach, nicht ganz unumstritten. Können beispielsweise Evangelikale, die wegen einer kreationistischen bzw. biblizistischen Haltung angefeindet oder abgelehnt werden, bereits als verfolgt gelten?

Zwischen Diskriminierung und Verfolgung ist eigens zu unterscheiden: „Was oftmals als Verfolgung bezeichnet wird, ist bei näherer Betrachtung", so räumt Walter Flick von der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte ein, „eher als Bedrängung oder Diskriminierung zu bezeichnen". Wie hoch letztlich die Zahl derer auch immer eingeschätzt wird, die um ihres christlichen Glaubens willen tatsächlich verfolgt werden, so kann der Aussage von Volker Kauder, Vorsitzender der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, wohl kaum widersprochen werden: „Die Verfolgung von Christen aufgrund ihres Glaubens ist eines der zentralen Menschenrechtsprobleme unserer Zeit." Das Christentum ist zweifelsfrei jene Religionsgemeinschaft, die weltweit am stärksten verfolgt wird.

Die Situation stellt sich länderspezifisch je anders dar, unterschiedlich sind die Verfolgungsformen wie auch die Verfolgergruppen. Hinzu kommt die Schwierigkeit, daß sich in Konflikten oftmals politische, ethnische, nationalistische, wirtschaftliche, soziale, und religiöse Faktoren überlagern. Die Menschenrechtsorganisation „Open Doors", die sich für bedrängte christliche Gemeinden und Gläubige einsetzt, veröffentlicht in ihrem jährlichen Weltverfolgungsindex eine Rangliste von 50 Staaten, in denen Christenverfolgungen vorkommen. Der Index basiert auf einem „eigens hierfür erstellten Fragebogen bestehend aus 50 Fragen. Die Antworten werden mit einer bestimmten Punktzahl bewertet. Die Gesamtsumme der Punkte für ein Land ergibt dessen Position im Weltverfolgungsindex." Recherchiert werden verschiedene Aspekte des völkerrechtlich verbrieften Rechts auf Religionsfreiheit wie etwa der rechtliche und offizielle Status von Christen, die tatsächliche Situation der im Land lebenden Christen, die Freiheit und Einschränkungen der Kirche in der Gesellschaft oder Faktoren, die die Religionsfreiheit in einem Land untergraben können.

Die Plätze eins bis zehn des Weltverfolgungsindexes 2007 belegen Nordkorea, Saudi-Arabien, Iran, Somalia, Malediven, Jemen, Bhutan, Vietnam, Laos und Afghanistan. In sechs dieser Länder ist der Islam die Religion der Mehrheitsbevölkerung bzw. Staatsreligion (Saudi-Arabien, Iran, Somalia, Malediven, Jemen, Afghanistan), drei Länder werden kommunistisch regiert (Nordkorea, Vietnam, Laos), und nur ein Land ist buddhistisch geprägt (Bhutan). Während Christen in Lateinamerika aufgrund ihres Einsatzes für soziale Gerechtigkeit und Frieden von rechten Paramilitärs oder mitunter auch von der linken Guerilla bedroht und verfolgt werden, sehen die spätkommunistischen Staaten das Christentum als Bedrohung ihres Regimes an; staatliche Stellen unterdrücken die Christen durch restriktive Gesetzgebungen und hindern sie an ihrer (öffentlichen) Religionsausübung.

In islamisch dominierten Staaten mit teils erstarkendem religiösem Fundamentalismus werden Christen benachteiligt, des Menschenrechts auf Religionsfreiheit beraubt, enteignet, gefoltert, zwangsbekehrt oder teils durch militant islamische Fundamentalisten hingerichtet. Bei den islamisch geprägten Staaten muß allerdings sorgfältig differenziert werden. Denn beispielsweise ergeht es den Christen im Süd- und Zentralirak, in Saudi-Arabien, im Iran und in einigen nördlichen Bundesstaaten Nigerias sowie im (Nord-)Sudan wesentlich schlechter als jenen in Syrien, Kuwait, Jordanien oder der Türkei, wenngleich es auch dort keine Religionsfreiheit gibt. Die Frage der Missionsausübung und Apostasie ist bislang in fast allen islamisch geprägten Ländern ein ungelöstes Problem.

Vornehmlich seit dem Irakkrieg hat sich die Situation für die ältesten christlichen Gemeinden im Nahen Osten dramatisch zugespitzt. Seit dem US-amerikanischen Einmarsch in den Irak im März 2003 sind dort viele Kirchen nahezu verwaist. Unter den derzeit 2,2 Millionen Flüchtlingen befinden sich nach Schätzung des Menschenrechtsbeauftragten von „missio", Otmar Oehring, 150000 Christen. Nach Auskunft von Kardinal Giovanni Lajolo sank im Iran der Bevölkerungsanteil der Christen von 0,1 Prozent vor etwa 30 Jahren auf 0,01 Prozent heute. Dramatisch ist die Lage der Christen auch in Israel und Palästina, der Geburtsstätte des Judentums und Christentums, wo ein ähnliches Ausbluten der Christenheit droht. So verringerte sich beispielsweise, nach Auskunft des in Ägypten geborenen italienischen Journalisten Magdi Allam, der Anteil der Christen an der Bevölkerung in Israel und den palästinensischen Gebieten in den letzten 40 Jahren von 15 auf heute 1,5 Prozent. Machten 1948 die Christen in Bethlehem noch 85 Prozent der Bevölkerung aus, sind es heute noch zwölf Prozent; ihr Anteil an der Jerusalemer Bevölkerung beläuft sich gerade noch auf zwei Prozent.

Die christlichen Kirchen des Nahen Ostens weisen infolge teils dramatischer Emigrationsbewegungen in die USA, nach Kanada und Australien durchgängig rückläufige Mitgliederzahlen auf. Nicht umsonst hat Papst Benedikt XVI. bei einer Audienz für die Teilnehmer einer Ökumenetagung im Vatikan auf die prekäre Lage christlicher Minderheiten im Nahen Osten aufmerksam gemacht und die Christen aller Traditionen und Gemeinschaften zum Bleiben aufgerufen. Doch die nahöstliche Christenheit fühlt sich in ihrem islamischen Umfeld bislang von den westlichen Christen vergessen. Zurecht hat Günter Beckstein als bayerischer Innenminister im Mai 2004 in einem Presseseminar, zu dem verschiedene christliche Organisationen in das Maximilianeum in München eingeladen hatten, bedauert, daß die christlichen Kirchen in Deutschland viel zu wenig auf das bedrängende Problem der Christenverfolgung in islamischen Ländern aufmerksam machen würden.

Tatsächlich ist bei uns das Thema Christenverfolgung weltweit und insbesondere im Nahen Osten noch längst nicht in das Bewußtsein der breiten Öffentlichkeit gedrungen, obgleich die Kirchen in unserem Land durch verschiedene Aktionen auf die problematische Lage aufmerksam zu machen versuchen. So hat am 13. September 2007 Kardinal Karl Lehmann in Berlin beim Pressegespräch zur Initiative „Solidarität mit verfolgten und bedrängten Christen" der Deutschen Bischofskonferenz zur Solidarität mit den Christen im Nahen Osten aufgerufen, weil ansonsten deren Überleben mittelfristig gefährdet sei: „Die ältesten christlichen Gemeinden stehen mancherorts vor dem Aus." Auch die „Gesellschaft für bedrohte Völker" (GfbV) warnt vor dem Ende der christlichen Minderheit im Irak - Dreiviertel der ursprünglich rund 650000 Assyro-Chaldäern wurden schon vertrieben.

Ferner hat die Deutsche Evangelische Allianz wieder Gemeinden zur Beteiligung am 11. November, dem weltweiten Gebetstag für verfolgte Christen aufgerufen, der im Jahr 2007 vor allem den Christen im Irak und in Vietnam galt. „Christen sind diktatorischen Systemen oft ein Dorn im Auge, aber sie nehmen um ihres Glaubens willen Leiden und Verfolgung auf sich", sagte ihr Generalsekretär Hartmut Steeb. Während sich die Evangelische Kirche in Deutschland insgesamt noch im Beratungsstadium befindet, hat die Württembergische Evangelische Landessynode einen jährlichen Gebetstag für verfolgte Christen beschlossen, der seit dem Jahr 2007 am 26. Dezember, dem Gedenktag des heiligen Stephanus - Diakon und Märtyrer der urchristlichen Gemeinde in Jerusalem -, begangen wird. Sinnvollerweise setzt sich die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte bei den Kirchen aller Konfessionen für einen „Ökumenischen Tag der verfolgten Christen" ein.

Das Thema Christenverfolgung bezieht sich nicht nur auf die apostolische (Apg 6-8; 2 Kor 11, 23f.; Offb 2, 8-11) und frühe Phase des Christentums (Nero, Decius, Valerian, Diokletian), sondern bedrängt uns auch in heutiger Zeit unmittelbar. Gerade die Länder des ehemaligen christlichen Abendlands sind in die Pflicht genommen, das Problem der weltweiten Christenverfolgung offensiv anzugehen - die Christen in den Ländern der Urkirche sind als Betroffene auf diese Stimme angewiesen. Oftmals werden die Christen in Nahost mit dem „verhaßten Westen" in Verbindung gebracht, doch finden sie in Europa auch die nötige Lobby? Gefordert wird unter anderem von der Gesellschaft für bedrohte Völker, den christlichen Flüchtlingen aus dem Irak, die unter uns leben, weiterhin Schutz zu gewähren bzw. die Asyl-Widerrufsverfahren gegen sie einzustellen, ein Kontingent von 20000 assyrochaldäischen Flüchtlingen, die keinerlei Zukunft mehr im Irak haben, aufzunehmen, die Flüchtlinge in Syrien, Jordanien und im Nordirak politisch und humanitär zu unterstützen sowie Kurdistan und die angrenzende mehrheitlich christliche Ninive- Ebene unter internationalen Schutz zu stellen, so daß der Terror nicht auf diese Gebiete, die bislang weitgehend friedlich sind und in denen Zehntausende Flüchtlinge Zuflucht gefunden haben, übergreift.

Am 24. Juni 2007 stimmte der Deutsche Bundestag für die Annahme eines Antrags, den Vertreter der CDU/CSU-Fraktion sowie der SPD-Fraktion eingebracht hatten. In ihm wird zunächst auf die heutige Verfolgung von Christen und anderen religiösen Minderheiten aufmerksam gemacht und die Bundesregierung anschließend aufgefordert, unter anderem „auf bi- und multilateraler Ebene mit Nachdruck für Religions- und Glaubensfreiheit einzutreten und insbesondere Defizite bei der Umsetzung zu thematisieren; . . . im Rahmen internationaler Organisationen, wie dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, dem Europarat und der OSZE, aber auch in bilateralen Gesprächen auf der umfassenden Einhaltung der Religionsfreiheit zu bestehen; … in der Entwicklungszusammenarbeit insbesondere der Wahrung der Religionsfreiheit Aufmerksamkeit zu schenken; . . . in den Beitrittsverhandlungen der EU mit der Türkei insbesondere die Situation der dort lebenden Christen zu thematisieren."

Was not tut, ist die Solidarität von Christen mit verfolgten Christen und anderen religiösen Minderheiten und der entschiedene Einsatz für deren Belange: „Wenn wir den Mandäern, die doch unsere christlichen Vorfahren sind, nicht helfen", schreibt Martin Walser an die Gesellschaft für bedrohte Völker, „dann ist uns nicht mehr zu helfen". Dem ist nichts hinzuzufügen.

Literatur: Autochthone Christen im Nahen Osten. Zwischen Verfolgungsdruck u. Auswanderung. Hg. v. Udo Steinbach. Hamburg: Deutsches Orient Institut, Mitteilungen Bd. 75/2006; Märtyrer 2007. Das Jahrbuch zur Christenverfolgung heute. Hg. v. Max Klingberg, Thomas Schirrmacher u. Ron Kubsch. Bonn: Verlag für Kultur und Wissenschaft 2007. 232 S. Br. 9,90; Solidarität mit verfolgten u. bedrängten Christen in unserer Zeit. Naher Osten. Beispiele aus Israel, Ägypten, Palästina u. dem Irak. Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn 2007 (Arbeitshilfen 210).

Stimmen der Zeit (2008) 417-419

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