Abschied vom Homo Oeconomicus?Über die Rationalität unseres wirtschaftlichen Handelns

Die moderne Ökonomie geht in ihrer Theoriebildung üblicherweise vom vollständig rational und eigennützig handelnden Menschen aus. Diese Figur des Homo Oeconomicus wurde zunächst für die Analyse von Marktprozessen entwickelt und dann nach und nach auch auf weitere zwischenmenschliche Interaktionen jenseits von "klassischen" Märkten angewendet. Beispiele dafür sind etwa die ökonomische Theorie der Demokratie, des Rechts, aber auch der Familie oder des Selbstmords. Nicht zuletzt aufgrund dieser Ausweitung des Anwendungsbereichs, die von ihren Protagonisten1 selbst als "ökonomischer Imperialismus" bezeichnet wird, wird der Homo Oeconomicus auch in der breiten Öffentlichkeit kontrovers und zumeist auch emotional diskutiert. Spätestens seit die Teilnehmer der Anti-Globalisierungs-Demonstrationen in Seattle und Genua mit dem Slogan "Nieder mit dem Homo Oeconomicus" aufgetreten sind, ist er auch in das Zentrum der öffentlichen Globalisierungsdebatte gerückt. Dabei wird dieses Modell häufig gleichgesetzt mit einem Bild vom Menschen, das primär von Egoismus und Streben nach maximalem Gewinn geleitet wird.

Die Mehrzahl der Ökonomen hält dem meist entgegen, daß der Homo Oeconomicus kein Menschenbild im üblichen Sinn ist, sondern ein Modell zur Erklärung menschlichen Verhaltens zum Zweck ökonomischer Theoriebildung, welche die Basis für Politikempfehlungen bildet. Ungeachtet der Frage, ob der Homo Oeconomicus nur ein theoretisches Konstrukt zur Klärung bestimmter Sachverhalte ist oder ob damit nicht doch auch, zumindest implizit, ein gewisses Bild vom Menschen gezeichnet wird, ist nun in den letzten Jahren interessanterweise in den Wirtschaftswissenschaften selbst eine intensive Debatte über den Erkenntniswert und die Realitätsnähe dieser Figur entbrannt.

Bevor diese grundsätzlichen und empirischen Anfragen an das Modell des Homo Oeconomicus und einige mögliche Konsequenzen für die Wirtschaftswissenschaften, die Wirtschaftspolitik und Wirtschaftsethik erörtert werden, soll zunächst das Homo-Oeconomicus-Modell in seinen grundlegenden Annahmen skizziert werden.

Das Verhaltensmodell der ökonomischen Theorie

Ausgangspunkt des Homo-Oeconomicus-Modells2 ist das einzelne Individuum und dessen Entscheidungen, auf die letztlich alle Marktergebnisse, oder allgemeiner, alle gesellschaftlichen Phänomene zurückgeführt werden können (methodischer Individualismus). Die eigennutzorientierten Individuen versuchen, ihre Ziele mit Hilfe der ihnen zur Verfügung stehenden Mittel bestmöglich zu erreichen; Interessen anderer finden dabei keine Berücksichtigung.

Die individuellen Ziele werden mit Hilfe von Präferenzen abgebildet, die ihre Nutzenvorstellungen repräsentieren und an denen die Akteure ihre Handlungen ausrichten. Diese Präferenzen werden nicht direkt durch Befragung oder andere psychologische Erklärungsmuster bestimmt, sondern indirekt aus den empirisch beobachtbaren Wahlhandlungen (Behaviorismus) abgeleitet. Menschliches Verhalten wird im Homo-Oeconomicus-Modell also als rationale Wahl ("Rational-Choice") aus den Handlungsalternativen verstanden, die für das betreffende Individuum in Frage kommen.

Eine weitere wichtige Grundannahme des Modells ist die strikte Trennung zwischen Präferenzen und Restriktionen. Letztere schränken den Handlungsspielraum der Individuen ein, weil etwa das Geld- oder Zeitbudget beschränkt ist oder weil Vorschriften bzw. Gesetze bestimmte Handlungen verbieten. Durch die Trennung von Präferenzen und Restriktionen wird auch die Situation der Knappheit modelliert: Die individuellen Bedürfnisse gelten prinzipiell als unersättlich, während die zur Verfügung stehenden Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse begrenzt sind. Schließlich werden die Präferenzen als konstant angesehen, so daß Verhaltensänderungen auf leichter beobachtbare und meßbare Kosten- bzw. Restriktionsänderungen zurückgeführt werden können.

Das Prinzip der Zweck-Mittel-Rationalität besagt nun, daß die Individuen in der Lage sind, alle Handlungsmöglichkeiten vollständig zu bewerten, sie gemäß ihrer Präferenzen in logisch konsistenter Weise zu ordnen und sich dann für die Alternative mit dem günstigsten Kosten-Nutzen-Verhältnis zu entscheiden. Auf dieser Grundlage läßt sich dann ein allgemeines Nachfragegesetz formulieren, das menschliches Verhalten folgendermaßen erklärt: Wenn sich die relativen Preise bzw. Kosten einer Wahlmöglichkeit im Vergleich zu den Alternativen ändern, werden die davon betroffenen Akteure in vorhersehbarer Weise reagieren. Bei relativer Teuerung sinkt und bei relativer Kostensenkung steigt tendenziell die Nachfrage nach den entsprechenden "Gütern". Dem Homo-Oeconomicus-Modell geht es also nicht darum, das Verhalten bestimmter einzelner Individuen zu prognostizieren, sondern um ein "typisches Verhalten". Es unterstellt lediglich, daß sich das Verhalten der Mehrzahl der Individuen in dieser Weise beschreiben und vorhersagen läßt.

Theoretische Anfragen an dieses Modell

Gegen das ökonomische Verhaltensmodell werden schon seit geraumer Zeit theoretische Einwände formuliert. Eine erste grundsätzliche Anfrage bezieht sich auf die letztlich tautologische Struktur des Präferenz-Konzepts. Verhalten soll nämlich erklärt werden in der Terminologie von Präferenzen, die ihrerseits von beobachtbarem Verhalten abgeleitet werden. "Präferiert" ist in diesem Sinn gleichbedeutend mit "gewählt". Es ist jedoch unmittelbar einsichtig, daß der Begriff Präferenz üblicherweise nicht allein auf die Auswahl aus Alternativen reduziert wird, da der Entscheidungsprozeß in vielen Fällen ein Kompromiß aus vielerlei Überlegungen darstellt. So verweist beispielsweise das in der Philosophiegeschichte immer wieder diskutierte Phänomen der Willensschwäche (acrasia) darauf, daß Präferenz und Wahlentscheidung kaum immer identisch sein werden.

Ein weiterer zentraler Einwand betrifft die Eigennutzhypothese. Das Homo-Oeconomicus-Modell in seiner üblichen Form schließt die Einbeziehung sozialer Präferenzen aus. Es gibt allerdings inzwischen erweiterte Interpretationen des Verhaltensmodells, die den Nutzenbegriff so weit fassen, daß auch soziale Präferenzen wie Altruismus und Mitleid vergleichsweise einfach integriert werden können. Dies ist etwa dann möglich, wenn man unterstellt, daß das Bemühen um andere das eigene Wohlbefinden und damit auch den Eigennutz steigert. Dann stellt sich allerdings die Frage, ob ein solcher Egoismus per definitionem das Homo-Oeconomicus-Modell nicht vollständig inhaltlich entleert. Wenn letztlich alle Motive auf Eigennutz zurückgeführt werden, widerspricht dies nicht nur dem üblichen Sprachgebrauch; auch der methodische Erkenntnisgewinn eines solchen Modells ist äußerst fraglich. Der indische Ökonom Amartya Sen, der 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhielt, spricht daher in einem berühmtem Aufsatz aus dem Jahr 1977 vom "Rationalclown" oder "Rational Fool" 3, der unabhängig vom tatsächlichen Grad an Egoismus automatisch zu einem Eigennutzmaximierer gemacht wird.

Probleme bekommt der Homo Oeconomicus freilich mit Handlungen, bei denen bewußt gewisse Nutzeneinbußen in Kauf genommen werden, sei es aus gewissen Fairneß- bzw. Gerechtigkeitserwägungen oder aufgrund verantwortlicher Verpflichtung. Damit wird die direkte Verbindung zwischen persönlicher Auswahl und Nutzensteigerung aufgehoben, die für das ökonomische Verhaltensmodell grundlegend ist. Dabei kommt die Frage der Absicht ins Spiel, die beispielsweise in der Rechtsprechung, aber auch in der Ethik eine fundamentale Rolle spielt, im Homo-Oeconomicus-Modell jedoch völlig ausgeblendet bleibt, da allein die Konsequenzen einer Handlung als bedeutsam erachtet werden.

Die Bedeutung von Intentionen läßt sich an folgendem Beispiel illustrieren: Zwei Söhne bekommen von ihren Eltern das Angebot, das große Auto des Vaters und das kleine Auto der Mutter für einen Wochenendausflug ausleihen zu dürfen unter der Bedingung, daß sie sich friedlich über die Aufteilung verständigen. Der ältere Sohn bietet daraufhin dem jüngeren an, auswählen zu dürfen und dieser entscheidet sich, ohne zu zögern, für das viel attraktivere Auto des Vaters. Der ältere Bruder ist darüber sichtlich verärgert und bemerkt, daß dies wohl ziemlich ungerecht sei. "Warum?" fragt der jüngere, "welchen Wagen hättest Du genommen, wenn Du hättest wählen dürfen?" "Den Kleineren natürlich!" antwortet der ältere, woraufhin der jüngere triumphiert lächelnd: "Was beklagst Du Dich denn, den hast Du doch bekommen!" Der ältere Sohn hätte sich vermutlich kaum geärgert, wenn er seinem Bruder den größeren Wagen aus altruistischen Motiven überlassen hätte. Offensichtlich spielten für ihn bestimmte Gerechtigkeitserwägungen eine Rolle, und sei es nur, daß er klammheimlich gehofft hat, daß sein jüngerer Bruder ihm das attraktivere Auto überläßt. Die unterschiedlichen Motive spielen im ökonomischen Verhaltensmodell jedoch keine Rolle; das Handlungsverständnis ist allein ergebnisorientiert.

Ergebnisse der neueren empirischen Wirtschaftsforschung

Zusätzlich zu diesen prinzipiellen Einwänden ist der Homo Oeconomicus in den letzten Jahren vor allem durch zahlreiche empirische Untersuchungen unter Beschuß geraten. Angeregt durch sozialpsychologische Forschungen hat sich in den Wirtschaftswissenschaften nämlich eine Richtung entwickelt, die nicht nur mit Feldstudien, sondern auch mit Hilfe von Laborexperimenten empirische Belege für individuelles Verhalten in ökonomischen Entscheidungssituationen geliefert hat, welche den Annahmen des Homo-Oeconomicus-Modells teilweise erheblich widersprechen. Die empirische Wirtschaftsforschung hat gegenwärtig Hochkonjunktur, was sich etwa daran zeigt, daß bedeutende wirtschaftswissenschaftliche Vereinigungen wie die "European Economics Association" 2001 ihre Jahrestagungen diesem Thema gewidmet haben und daß zwei herausragende Vertreter dieser Disziplin, Vernon L. Smith und Daniel Kahnemann, 2002 mit dem Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften ausgezeichnet wurden.

Insgesamt legen die empirischen und experimentellen Untersuchungen nahe, daß die Annahme strikt rational und eigennützig agierender Individuen in mehrerlei Hinsicht zu kurz greift, was durchaus auch Auswirkungen auf aggregierte Marktergebnisse hat. Die neuere empirische Wirtschaftsforschung beschränkt sich nicht allein darauf, empirische Abweichungen vom traditionellen ökonomischen Verhaltensmodell aufzuzeigen, sondern bemüht sich auf der Basis der Untersuchungsergebnisse auch, alternative Modelle zu entwickeln. Im folgenden werden einige grundlegende Erkenntnisse und Schlußfolgerungen für die Theoriebildung kurz skizziert.

1. Eingeschränkte Rationalität. Empirische Untersuchungen des realen ökonomischen Entscheidungsverhaltens gehen vor allem auf die Arbeiten von Herbert Simon4 zurück, der bereits 1957 die idealtypische Annahme der vollständig rationalen Wahl kritisierte und alternativ ein Konzept eingeschränkter Rationalität ("bounded rationality") vorschlug. Seiner Ansicht nach sind die Akteure aufgrund der komplexen Problemzusammenhänge grundsätzlich damit überfordert, alle ihnen möglichen Handlungsalternativen zu kennen, geschweige denn ihre Konsequenzen zu beurteilen und sie vollständig und konsistent zu bewerten. Aus diesem Grund kann der Mensch auch nicht seinen Nutzen maximieren, sondern er begnügt sich damit, in Anlehnung an bestimmte Routineregeln und einfache Lernprozesse ein zufriedenstellendes ("satisfying") Anspruchsniveau zu erreichen. Simon führte daher das Modell des "Satisficing Man" ein, der solange nach befriedigenden Lösungen sucht, bis sein Anspruchsniveau erreicht ist. Falls ihm dies nach längerer Suche nicht gelingt, senkt er seine Ansprüche, bis er eine entsprechend akzeptable Alternative gefunden hat.

Diese Theorie wurde im weiteren Verlauf auf der Basis empirischer Studien in verschiedener Weise weiterentwickelt5. Die Untersuchungsergebnisse haben unter anderem darauf hingewiesen, daß eingeschränkte Rationalität nicht einfach als eine andere Art von Nutzenmaximierung erklärt werden kann, etwa im Sinn einer Optimierung unter zusätzlichen Nebenbedingungen. Die eingeschränkte Rationalität bezieht sich nämlich nicht nur auf die unvollständige und inkonsistente Bewertung möglicher Entscheidungsalternativen, was vor allem auf Finanzmärkten eine wichtige Rolle zu spielen scheint. Zahlreiche Studien weisen inzwischen solch "widersprüchliches" Verhalten auf Finanzmärkten nach6. So gibt es eindeutige Belege dafür, daß Investoren in ihren Entscheidungen neue Informationen im Vergleich zu weiter zurückliegenden systematisch überbewerten und sich auch viel stärker davor scheuen, Verluste zu realisieren, auch wenn dies eigentlich ökonomisch geboten wäre.

Die Grenzen der Rationalität zeigen sich vielmehr auch darin, daß rationale Bewertung und tatsächliche Wahlentscheidung nicht notwendigerweise übereinstimmen, da das Verhalten offensichtlich auch von eingeschränkter Willenskraft bestimmt ist. Solche Selbstkontrollprobleme sind beispielsweise im Hinblick auf die Altersversorgung von Bedeutung, wo für viele Akteure zwar unmittelbar einsichtig ist, daß ausreichende Rücklagen für ihre Alterssicherung sinnvoll sind. In vielen Fällen werden diese Altersrücklagen aber aufgrund kurzfristiger Konsumentscheidungen zurückgestellt oder zumindest eingeschränkt.

2. Eingeschränkter Eigennutz. Eine weitere wichtige Erkenntnis der neueren empirischen Wirtschaftsforschung ist, daß sich Menschen auch in ökonomischen Entscheidungssituationen nur begrenzt eigennützig verhalten. Dazu beigetragen haben vor allem neue Experimentaltechniken, die es erlauben, ökonomisches Verhalten in kontrollierten Versuchen zu analysieren und mit den Prognosen des Homo-Oeco- nomicus-Modells zu vergleichen. Diese Experimente werden unter realen Bedingungen durchgeführt, was bedeutet, daß die Wahlhandlungen der untersuchten Teilnehmer für diese unmittelbar monetäre Auswirkungen haben und sie für ihre jeweiligen Entscheidungen entsprechend zahlen müssen oder Geld erhalten.

Ein erstes Ergebnis dieser experimentellen Untersuchungen ist der Beleg für die Relevanz von sozialen Präferenzen wie Fairneß und Reziprozität7. Fairneß meint die faire Aufteilung des Tauschertrages unter Beachtung gerechter Verfahrensregeln; Reziprozität ist im Sinn einer bedingten Kooperationsbereitschaft zu verstehen und bedeutet, daß Akteure bereit sind, faires Verhalten des Tauschpartners zu belohnen und unfaires entsprechend zu bestrafen, und zwar auch dann, wenn dies mit persönlichen Einbußen verbunden ist. Armin Falk spricht daher bereits vom bedingt kooperationsbereiten "Homo Reciprocans", den er dem Homo Oeconomicus gegenüberstellt8.

Reziprokes Verhalten läßt sich an dem sehr einfachen Ultimatum-Spiel zeigen. Zwei Personen A und B müssen sich gemäß folgender Regel über die Aufteilung einer bestimmten Geldsumme, beispielsweise 100 Euro, verständigen. A macht einen Vorschlag, wie das Geld aufzuteilen ist. B muß auf diesen Vorschlag antworten und kann den Vorschlag akzeptieren oder zurückweisen. Wenn B zurückweist, bekommt keiner der beiden etwas, wenn B annimmt, wird das Geld gemäß dem Vorschlag von A aufgeteilt. Unter der üblichen Homo-Oeconomicus-Annahme der Zweckrationalität beider Spieler ist die Lösung des Spiels, daß A dem Mitspieler B einen minimalen Betrag, zum Beispiel 10 Cent, zugesteht. Da nämlich A weiß, daß dadurch auch B besser gestellt wird, wird er ihm nur einen minimalen Teil überlassen, um selbst einen möglichst großen Anteil einzustreichen. Die Auswertung einer Vielzahl solcher Spiele in Laborexperimenten zeigt nun allerdings andere Lösungen9. Wenn A dem Mitspieler B weniger als 20 Prozent der aufzuteilenden Summe anbietet, wird dieses Angebot mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,4 bis 0,6 abgelehnt. Als Motiv für die Ablehnung wird in der Regel angegeben, daß ein niedriges Angebot als "unfair" angesehen und daher zurückgewiesen wird, obwohl damit ein persönlicher Verlust verbunden ist.

Verschiedene Experimente konnten auch nachweisen, daß Fairneß und Reziprozität durchaus auch Einfluß auf aggregierte Marktergebnisse haben, vorausgesetzt, daß es einen Spielraum für reziprokes Verhalten gibt10. Dies ist in sogenannten unvollständigen Vertragsmärkten der Fall, wo Leistungen und Gegenleistungen der Tauschpartner nicht vollständig durch einen Vertrag geregelt werden können. Ein klassisches Beispiel dafür sind die Arbeitsmärkte, wo das Anforderungsprofil der Arbeitsstelle oder die Leistungsbereitschaft des Arbeitnehmers nur sehr begrenzt durch einen Arbeitsvertrag festgelegt werden können. Umfangreiche Befragungen von Personalmanagern in den USA11 konnten beispielsweise einen nicht unerheblichen Einfluß von Fairneßüberlegungen auf das Marktergebnis nachweisen. Auf die Frage, warum sie in rezessiven Phasen nicht die Löhne senken, was das ökonomische Verhaltensmodell voraussagen würde, antwortete die Mehrzahl der befragten Personalmanager, daß dies von den Arbeitnehmern als unfair empfunden und sich vermutlich negativ auf ihre Arbeitsmoral und Leistungsbereitschaft auswirken würde.

Für die Fairneßeinschätzung und Kooperationsbereitschaft spielen nicht nur die Handlungsfolgen, sondern auch mit den Handlungen verbundene Intentionen eine wichtige Rolle. So belegt etwa Armin Falk anhand unterschiedlicher experimenteller Versuchsanordnungen, daß die gleichen Handlungsfolgen durchaus verschieden beurteilt werden, je nachdem ob die jeweiligen Tauschpartner dafür verantwortlich gemacht werden können und ob die zugrundeliegende Absicht bzw. die Verfahren als fair oder unfair betrachtet werden. Dies wirkt sich beispielsweise auch auf die Einschätzung von Lohnsenkungen aus, die - wie die Befragung der Personalverantwortlichen auch zeigt - leichter akzeptiert werden, wenn die Arbeitgeber glaubhaft vermitteln können, daß sie keine andere Wahl haben, um etwa einen drohenden Konkurs abzuwenden.

Das Phänomen der bedingten Kooperationsbereitschaft hat auch für sogenannte soziale Dilemmasituationen eine wichtige Bedeutung. Diese zeichnen sich dadurch aus, daß eine Kooperation für alle Beteiligten von Vorteil wäre, jeder einzelne sich nach Abschluß einer Kooperationsvereinbarung aber noch einmal besser stellt, wenn er die Kooperation unterläuft und sich als "Trittbrettfahrer" verhält. Auf der Basis des Homo-Oeconomicus-Modells lassen sich solche sozialen Dilemmasituationen nur dann lösen, wenn der Staat die Akteure durch eine Rechtsordnung einschließlich Sanktionsmechanismen zur Einhaltung einer entsprechenden Kooperationsvereinbarung zwingt. Verschiedene experimentelle Studien legen nun nahe, daß viele Akteure auch in sozialen Dilemma-Situationen bedingt kooperatives Verhalten zeigen, was unter bestimmten Voraussetzungen zur Überwindung dieser Dilemmata genutzt werden kann.

Falk erläutert dies am Phänomen der Steuerhinterziehung12, das für nahezu alle Gesellschaften ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem mit erheblichen wirtschaftlichen Folgen darstellt. Die traditionelle Homo-Oeconomicus-Analyse betrachtet dieses Problem primär unter der Rücksicht materieller Anreize und vergleicht die zu entrichtende Steuerlast mit der Strafe, die im Fall einer nachgewiesenen Steuerhinterziehung (Produkt aus Strafhöhe und Aufdeckungswahrscheinlichkeit) zu entrichten wäre. Der Aspekt der Steuermoral spielt dabei keine Rolle. Empirische Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, daß auch freiwillige Formen der Steuerzahlung bedeutsam sind, was unter anderem daran deutlich wird, daß der Umfang der Steuerhinterziehung in vielen Ländern geringer ist, als gemäß dem Homo-Oeconomicus-Modell prognostiziert. Die freiwillige Bereitschaft zur Entrichtung von Steuern kann somit bei der politischen Ausgestaltung des Steuersystems berücksichtigt werden, wenn man, wie Falk, Steuermoral als eine Form bedingt kooperativen Verhaltens interpretiert. Dies bedeutet, daß jemand um so mehr bereit ist, seine Steuern zu zahlen, je mehr er davon überzeugt ist, daß auch die anderen einen fairen Steuerbetrag entrichten. Diese Überlegungen haben weitreichende Auswirkungen auf die Frage der politischen Ausgestaltung von Steuerreformen, legen sie doch nahe, daß die Steuermoral gefördert werden kann durch ein Steuersystem mit Bemessungsgrundlagen und Steuertarifen, die von der Mehrzahl der Betroffenen als "fair" angesehen werden.

3. Intrinsische Motivation. Das traditionelle ökonomische Verhaltensmodell geht davon aus, daß Akteure systematisch und in vorhersehbarer Weise auf Änderungen der Restriktionen reagieren, die ausschließlich durch externe Anreize wie monetäre Zahlungen oder Vorschriften hervorgerufen werden. Es gibt jedoch empirische Belege dafür, daß Menschen auch in ökonomischen Zusammenhängen bestimmte Handlungen um ihrer selbst willen, d.h. aus einer intrinsischen Motivation heraus, ausführen. Intrinsische Motivation ist jedoch nicht einfach ein zusätzlicher Faktor, sondern wirkt je nach Konstellation in unterschiedlicher Weise mit externen Anreizen zusammen, was Bruno S. Frey an zahlreichen Untersuchungen zur Arbeitsmotivation belegt13. Unter bestimmten Voraussetzungen verstärken externe Anreize die intrinsische Arbeitsmotivation und Leistungsbereitschaft (Verstärkungseffekt), wenn etwa die Vergabe von Leistungsprämien in einer Abteilung oder Firma von allen als transparent und fair angesehen wird. Zusätzliche Geldzahlungen oder Arbeitsvorschriften können jedoch auch intrinsische Motivation und damit auch die Leistungsbereitschaft vermindern. Dies wird von Sozialpsychologen auf die "verborgenen Kosten der Belohnung" zurückgeführt. Sie erklären dies damit, daß zusätzliche Geldzahlungen oder Arbeitsvorschriften die individuelle Selbstbestimmung und Selbsteinschätzung einschränken können, so daß aus einer weitgehend selbstbestimmten eine fremdbestimmte Arbeit wird.

Dieser sogenannte Verdrängungseffekt ist nicht nur in der Personalführung von Bedeutung, sondern auch gesellschaftspolitisch relevant. So gibt es empirische Belege dafür, daß die Bezahlung von bestimmten ehrenamtlichen Tätigkeiten die Bereitschaft zu freiwilligen Leistungen untergraben kann. Ähnlich ungünstig kann sich die Einführung von Vorschriften im Bereich freiwilliger und karitativer Arbeit auswirken.

Zusätzlich zu diesem direkten Verdrängungseffekt gibt es auch einen Übertragungseffekt, wenn die Verdrängung intrinsischer Motivation durch externe Anreize auch Auswirkungen auf angrenzende Bereiche hat. Dies läßt sich etwa bei der Ansiedelung von Einrichtungen wie Gefängnissen, Anlaufstellen für Asylbewerber oder Lagerstätten für Problemmüll beobachten, die gesamtgesellschaftlich notwendig sind, aber aufgrund der damit verbundenen Probleme vor Ort in der Regel auf wenig Gegenliebe stoßen. Eine ausschließlich anreizorientierte Lösung dieser Standortprobleme birgt nicht geringe Risiken, die häufig übersehen werden. Wenn die Gemeinden durch Verordnungen gegen ihren Willen zur Aufnahme solcher Einrichtungen gezwungen werden, könnte sich dies negativ auf die Motivation der Bürger auswirken, zukünftig auch einen freiwilligen Beitrag in anderen Zusammenhängen zu leisten. Eine monetäre Kompensation erhöht dagegen die Gefahr, daß die Akzeptanz anderer Gemeinden schwindet, freiwillig und unentgeltlich ähnlich problematische Einrichtungen aufzunehmen.

Quo vadis Homo Oeconomicus?

Die empirischen Befunde der neueren experimentellen Wirtschaftstheorie zeigen eindeutige Abweichungen des realen wirtschaftlichen Verhaltens von den Annahmen des Homo-Oeconomicus-Modells, insbesondere was die Prinzipien der individuellen Rationalität und des strikten Eigennutzes betrifft. Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, welche Konsequenzen sich daraus für die Wirtschaftswissenschaft und die Wirtschaftspolitik, aber auch für die Wirtschaftsethik ergeben. Zuweilen wird daraus der Schluß gezogen, daß damit der Abschied vom ungeliebten Homo Oeconomicus eingeläutet sei14 und daß dieser nun einem realistischerem Menschenbild Platz machen müsse. Bei näherer Betrachtung bleibt bisher allerdings unklar, welches Modell dies sein soll. Auch wenn die Verhaltensökonomen sich ausdrücklich darum bemühen, den "Satisficing Man" oder den "Homo Reciprocans" auch theoretisch weiterzuentwickeln, ist ungewiß, ob eine dieser Alternativen allein zu einem besseren Verständnis wirtschaftlicher Phänomene beitragen kann. Eine ökonomische Analyse wird auch in Zukunft das anreizorientierte Homo-Oeconomicus-Modell zu Rate ziehen. So läßt sich auf dieser Basis beispielsweise der Schluß ziehen, daß die Strafhöhe bei Steuerhinterziehung nicht zu gering ausfallen darf. Ähnliches gilt für den Tatbestand der Korruption, wo mit Hilfe der Homo-Oeconomicus-Analyse einerseits eine Erweiterung des Strafrechts und andererseits ein ausreichender Mindestlohn für Funktionsträger abgeleitet werden kann, um die Versuchung zur Korruption zu reduzieren.

Die empirische Wirtschaftsforschung hat allerdings nachgewiesen, daß diese ausschließlich anreizorientierte Sichtweise wesentliche Aspekte menschlichen Verhaltens (intrinsische Motivation, Orientierung an Fairneßkriterien) ausblendet, was zu unvollständigen und auch falschen Politikempfehlungen führen kann. So legen die empirischen Ergebnisse nahe, daß auch ökonomische Akteure entgegen der Homo-Oeconomicus-Annahme bedingt kooperationsbereit sind, was nicht bedeutet, daß sie per se uneigennützig handeln, sondern daß sie grundsätzlich bereit sind, sich an gewissen Fairneßkriterien zu orientieren und sich unter bestimmten Voraussetzungen kooperativ verhalten. Das heißt aber auch, daß die Erwartungen über das Verhalten anderer und die Einschätzung des institutionellen Umfelds in gewisser Weise handlungsleitend sind. Dieser Faktor wird in der jüngeren sozialwissenschaftlichen Diskussion als Sozialkapital15 bezeichnet.

Ein wesentliches Merkmal des sozialen Kapitals einer Gesellschaft ist, daß die Rechtsordnung und andere formale Rahmenbedingungen wechselseitig mit den informellen sozialen Normen verbunden sind. Wenn das formale ordnungspolitische Institutionengefüge (Rechtssystem, Steuersystem, Sozialstaat) als fair eingeschätzt wird, fördert dies entsprechend auch regelkonformes Verhalten. Umgekehrt können institutionelle Rahmenbedingungen, die als unfair oder ungerecht wahrgenommen werden, die freiwillige Kooperationsbereitschaft untergraben. Das hat wesentliche Konsequenzen für die Politik, welche die Verhaltensreziprozität durch gezielte Maßnahmen nutzen und somit das Sozialkapital einer Gesellschaft fördern kann.

Für die Wirtschaftswissenschaft folgt daraus, daß sie vermutlich ihren Anspruch aufgeben muß, in ihrer Analyse allein auf ein für alle Probleme zuständiges Modellkonstrukt zurückzugreifen. Der Homo Oeconomicus wird sich daher daran gewöhnen müssen, daß ihm alternative Analyseinstrumente wie der Satisficing Man oder der Homo Reciprocans an die Seite gestellt werden, die ihn ergänzen und gegebenenfalls auch korrigieren. Im Sinn eines konstruktiven Wettbewerbs um ein besseres Verständnis der ökonomischen Wirklichkeit müßte dies ein ökonomisch geschulter Homo Oeconomicus eigentlich auch begrüßen, denn er weiß ja schließlich, daß Monopolsituationen für die Wirtschaft nie von Vorteil sind.

Wenn der Homo Oeconomicus wie auch der Satisficing Man oder der Homo Reciprocans als Analyseinstrumente interpretiert werden, die bestimmte Aspekte menschlichen Verhaltens zum Zweck ökonomischer Modellbildung bewußt hervorheben und den Menschen darauf reduzieren, verbleibt die Frage nach dem Menschenbild im philosophischen Sinn, die sich allerdings weniger an die Wirtschaftswissenschaften als vielmehr an die Wirtschaftsethik richtet. Wichtige Hinweise dafür finden sich beim Moralphilosophen Adam Smith (1723-1790), der auch weithin als Begründer der modernen Wirtschaftswissenschaften gilt. In seiner von ihm selbst als Hauptwerk angesehen "Theorie der moralischen Gefühle" von 1752 entwickelt Smith ein umfassendes System der Moralphilosophie. Bemerkenswert daran ist, daß er nicht mehr nur wie in der traditionellen Moralphilosophie danach fragt, wie der Mensch handeln soll, sondern vielmehr auf der Basis einer bemerkenswert reichhaltigen sozialpsychologischen Beobachtung untersucht, was aufgrund seiner menschlichen Natur geboten ist.

Dies wendet er in seinem "Wohlstand der Nationen" von 1776 auch speziell auf ökonomische Zusammenhänge an. Leitendes Prinzip des wirtschaftlichen Tuns sind für Smith nicht - wie häufig irrtümlicherweise angenommen - die egoistischen Interessen der einzelnen Akteure, die darauf aus sind, ihren eigenen Nutzen zu steigern. Es ist vielmehr die "natürliche Neigung des Menschen, zu handeln und Dinge gegeneinander auszutauschen", was für Smith letztlich erwächst aus der "menschlichen Fähigkeit, denken und sprechen zu können" 16. Dies bedeutet nicht, daß Smith das Eigeninteresse gerade im wirtschaftlichen Handeln nicht für ein gewichtiges Motiv hält, es hat für ihn jedoch keineswegs per se eine moralische Qualität. Moralisch gerechtfertigt ist dieses Eigennutzstreben, solange dadurch die legitimen Interessen der anderen nicht beeinträchtigt werden.

Stimmen der Zeit (2003) 762-772

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