Von Kirche träumen

Roman Bleistein SJ, der Verfasser dieses Beitrags, ist am 17. August 2000 im Alter von 72 Jahren unerwartet verstorben. 1928 in Aschaffenburg geboren, trat er 1948 in die Gesellschaft Jesu ein. Von 1965 bis 1998 war er Mitglied der Redaktion der "Stimmen der Zeit" und stand ihr bis zu seinem Tod mit Rat und Tat zur Seite. Diese Arbeit betrachtete er immer als seine zentrale Aufgabe. Als allgemein anerkannter und vielfach gefragter Experte für Fragen der Jugend war er Mitglied und Berater zahlreicher Gremien und Kommissionen innerhalb und außerhalb der Kirche. Darüber hinaus war er Professor für Pädagogik an der Hochschule für Philosophie in München und befaßte sich mit der Freizeit- und Tourismusseelsorge. Seit 1977 wurde die zeitgeschichtliche Forschung ein wichtiger Schwerpunkt seiner Arbeit. Er veröffentlichte grundlegende Arbeiten über die Jesuiten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, besonders über Alfred Delp, Rupert Mayer und Augustin Rösch. Alle diese Themen behandelte er auch in seinen zahlreichen Beiträgen in dieser Zeitschrift, deren Profil er in den vergangenen Jahrzehnten wesentlich mitgeprägt hat. Die Redaktion wird ihn in dankbarer Erinnerung behalten. Das Manuskript des nachfolgenden Beitrags fand sich in seinem Nachlaß und war Grundlage für verschiedene Vorträge, die er zuletzt gehalten hat.

Die Redaktion

Das Thema ist schwierig; denn wenig ist heute so umstritten wie die Kirche. Sie hat ihre Geschichte, sie hat ihre Verdienste und sie hat auch immer wieder Schuld auf sich geladen. Sie wird bewundert und gelobt, attackiert und verfolgt. Man kann jedoch nur mit dieser konkreten Kirche leben, nicht mit einer Kirche, die man sich ausgedacht hat. In der Geschichte läßt sich selten das Erwünschte finden, sondern nur die Realität, und diese ist gemischt aus Licht und Schatten. Gerade in diesem Dilemma liegt es nahe, von Kirche zu träumen.

Zunächst müssen wir jedoch fragen, wer die Kirche ist und wie sie ihren Weg durch die Zeit geht.

Wer ist die Kirche?

Die Sicht von außen und das Selbstverständnis der Kirche werden jeweils durch ihre geschichtliche Situation bestimmt. Die Grundfragen heißen dann: Kann sie in Frieden leben? Muß sie einen Kirchenkampf durchstehen? Diese allgemeinen Fragen sind nur konkret zu beantworten. So wurde die Kirche im 19. Jahrhundert arg bedrängt. Es sei nur an den Kulturkampf in Deutschland unter dem Reichskanzler Otto von Bismarck erinnert. Als Reaktion auf die Repression und als Option für einen unzerstörbaren Zusammenhalt wurde die Kirche auf die Hierarchie enggeführt. Kirche, das waren der Papst, die Bischöfe und, bereits minderen Ranges, die Priester. Diese Strukturen - ausgestattet mit Macht und repräsentativen Symbolen - stellten für viele die Kirche Jesu Christi schlechthin dar, jenes "Haus voll Glorie", "weit über alle Land", wie sie in einem bekannten Kirchenlied sangen. Das Erste Vatikanische Konzil (1869-1870) hat viel zu diesem Selbstverständnis und zu dieser Sicht der Kirche beigetragen. Gerade durch die Definition des Jurisdiktionsprimats und des unfehlbaren Lehramts des Papstes hat die Kirche neue Stabilität gewonnen und den bedrängten Gläubigen die Kraft vermittelt, trotz aller Anfeindungen der Politiker und gegen die Argumente der Kirchenkritiker standhaft die Attacken zu überstehen.

Das von Papst Johannes XXIII. einberufene Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965), das bedeutendste kirchliche Ereignis des 20. Jahrhunderts, hat andere Akzente als das 19. Jahrhundert gesetzt. Die zwei grundlegenden Texte des Konzils deuten bereits diesen Mentalitätswandel an. Sie heißen "Lumen gentium" - "Licht der Völker" - und "Gaudium et spes" - "Freude und Hoffnung". Beide Formulierungen sind Signale. Sie wenden den Blick der Kirche von sich selbst ab, richten ihn auf Christus und schicken die Kirche dann in den Dienst an der Welt. Teilhaben soll sie an allem, was Menschen bewegen kann. So heißt es am Anfang von "Gaudium et spes":

"Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihrem Herzen seinen Widerhall fände" (GS 1).

Diese beiden Texte geben eine erste Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Kirche: Die Kirche ist das gesamte Volk Gottes, also alle ihre Mitglieder, nicht nur die Hierarchie. Alle diese bilden das Volk Gottes in der Kraft des Heiligen Geistes und damit die lebendige Kirche. In "Lumen Gentium" wird das so ausgesagt:

"Christus der Herr, als Hoherpriester aus den Menschen genommen, hat das neue Volk 'zum Königreich und zu Priestern für Gott und seinen Vater gemacht'. Durch die Wiedergeburt und die Salbung mit dem Heiligen Geist werden die Getauften zu einem geistigen Bau und einem heiligen Priestertum geweiht, damit sie in allen Werken eines christlichen Menschen geistige Opfer darbringen und die Machttaten dessen verkünden, der sie aus der Finsternis in sein wunderbares Licht berufen hat. So sollen alle Jünger Christi ausharren im Gebet und gemeinsam Gott loben und sich als lebendige, heilige, Gott wohlgefällige Opfergabe darbringen; überall auf Erden sollen sie für Christus Zeugnis geben und allen, die es fordern, Rechenschaft ablegen von der Hoffnung auf das ewige Leben, das in ihnen ist. Das gemeinsame Priestertum der Gläubigen aber und das Priestertum des Dienstes, das heißt das hierarchische Priestertum, unterscheiden sich zwar dem Wesen und nicht bloß dem Grade nach. Dennoch sind sie einander zugeordnet: das eine wie das andere nämlich nimmt je auf besondere Weise am Priestertum Christi teil" (LG 10).

Dieser Text formuliert die erste große Einsicht, die den Stolz und die Freude eines jeden Christen begründet. Die zweite Aussage, daß es nämlich in dieser Kirche einen Unterschied zwischen dem Amt und den "Laien" gibt, kommt erst auf dem Hintergrund dieser Grundaussage zur Sprache. Das Amt ist von seinem Dienst am Volk Gottes her zu verstehen, das heißt vom Dienst an der Wahrheit und an der Einheit her. Dieser Dienst ist auf das Volk Gottes hingeordnet und ihm untergeordnet. Die Autorität des Amtes bedeutet nichts anderes als Dienst. Macht soll Liebe sein - und diese neue Sicht trifft für die gesamte Hierarchie zu.

Das sind für viele Christen umstürzende Aussagen. So nimmt es nicht wunder, daß sich nicht wenige an ihnen stoßen, und dies aus unterschiedlichen Gründen. Die einen hadern mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, weil sie sich als einzelne Christen zu sehr in die Pflicht genommen fühlen, sich für die ganze Kirche verantwortlich wissen sollen und zur Mitarbeit in Räten und Kommissionen gebeten werden. Sie sagen: Wie schön war es doch gewesen, alle Verantwortung an "die da oben" abzuschieben. Die anderen können sich mit dieser Art von Kirche nicht anfreunden, weil es in ihr nicht mehr das Amt mit seinem Glanz und seiner distanzierenden Würde gibt, an dem man sich auch ausrichten und aufrichten konnte. Da war der Gesprächspartner für den Laien immer deutlich sichtbar. Aber mit wem hat man am Ende zu tun bei den "Räten" und "Mitverantwortungsgremien" in der Pfarrgemeinde oder in der Diözese? Heute würden sich Macht und Vollmacht sehr unklar und verschwommen äußern, sagen diese.

Dennoch: Wir alle sind dieses Volk Gottes. In seiner konkreten Gestalt ist es nur zu begreifen im Rückgriff auf die Anfänge. Die Anfänge aber berichten bereits von den Zwölfen, von den 72 Jüngern, vom Vorrang des Simon Petrus. Darüber läßt sich viel Präzises aus der Geschichte der Kirche entnehmen. Aber wie gesagt: Diese Struktur ist dem lebendigen Volk Gottes nachgeordnet. Wer ist also die Kirche? Nicht die anderen, nicht die da oben, nicht die früheren, nicht die kommenden, sondern ganz einfach: wir Christen von heute, in diesem Jahr 2000 in Deutschland und in der weiten Welt (und nicht nur in Rom!).

Wie geht die Kirche ihren Weg durch die Zeit?

Eine erste Antwort findet sich wiederum in "Gaudium et Spes". Es heißt dort: "Ist doch die der Kirche eigene Gemeinschaft aus Menschen gebildet, die, in Christus geeint, vom Heiligen Geist auf ihrer Pilgerschaft zum Reich des Vaters geleitet werden und eine Heilsbotschaft empfangen haben, die allen auszurichten ist. Darum erfährt diese Gemeinschaft sich mit der Menschheit und ihrer Geschichte wirklich engstens verbunden" (GS 1). Lumen Gentium ergänzt diese Aussage: "Die Kirche 'schreitet zwischen den Verfolgungen der Welt und den Tröstungen Gottes auf ihrem Pilgerweg dahin' und verkündet das Kreuz und den Tod des Herrn, bis er wiederkommt. Von der Kraft des auferstandenen Herrn aber wird sie gestärkt, um die Trübsale und Mühen, innere gleichermaßen wie äußere, durch Geduld und Liebe zu besiegen und sein Mysterium, wenn auch schattenhaft, so doch getreu in der Welt zu enthüllen, bis es am Ende in vollem Licht offenbar werden wird" (LG 8).

Die Kirche ist die pilgernde Kirche. Die Gründung der Kirche ergibt sich aus der Einmaligkeit der Menschwerdung Gottes, die in einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort der Geschichte stattfand. Da - wie wir glauben in Jesus Christus das letzte, große Wort Gottes an alle Menschen erging, mußte eine sich immer erneuernde Gemeinschaft dieses Wort gleichsam aufnehmen, damit es zu einem jeden Menschen - wo und wann immer er lebt - weitergesagt wird.

In der Kirche will sich Christus in jeder Zeitsituation inkarnieren. Sie ist die neue Gemeinde, die von ihm redet, ihn bezeugt, sein Leben weiterträgt, damit allen Menschen - welcher Rasse und Geschichte auch immer - "durch den Anspruch und Zuspruch Gottes das Leben gelingt" (Würzburger Synode). Diese Gemeinschaft der Kirche erfüllt ihre Sendung in einem dreifachen Dienst: in der Verkündigung (Martyria), in den Feiern des Glaubens in der Eucharistie (Liturgie) und im Dienst an den Kleinen und Armen, die Jesus liebte (Diakonia). Dies alles wird umschlungen von der Gemeinschaft, der Koinonia, die bei aller Vielfalt der einzelnen die Gläubigen eint. Durch diesen Dienst an der einmaligen Botschaft erfüllt die Kirche ihren Sinn und ihre Sendung und versucht dadurch zu gewährleisten, daß die Botschaft vom Tod und von der Auferstehung Jesu auch die heutigen Menschen in der weiten Welt heilsam und heilbringend erreicht.

Nun ist dies alles leichter gesagt als getan; denn die Kirche Jesu Christi findet sich immer wieder in einer neuen, sie stets überraschenden Zeit vor und hat auf diese Herausforderungen zu antworten. Sie hat - gemäß der Devise von Kardinal Michael Faulhaber: "Vox temporis, vox Dei" - die Stimme in und aus der Zeit zu hören, die Signale, die verschlüsselten Botschaften, die Schreie und Hilferufe, die Anfragen und auch die Anklagen. Dann aber kann es geschehen, daß die Kirche die Anrufe nicht oder nur halb hört, daß sie die falschen Antworten gibt oder daß sie wohl richtig antwortet, aber gänzlich falsch handelt. Die Geschichte beweist deutlich und beunruhigend, daß die Kirche immer wieder die große Stunde der helfenden Antwort und des notwendigen Dienstes verschlafen hat.

Die Kirche kann sich dieser Auseinandersetzung nicht entziehen. Sie wird immer durch die Gewitter und die Stürme der jeweiligen Zeit pilgern müssen. Und da gibt es dann in ihr Progressive und Konservative: solche, die die Kirche verändern wollen, und solche, die das Alte festhalten wollen - und zwischen den beiden Meinungsgruppen kommt es oft zu unschönen und unchristlichen Spannungen und Konflikten. Damit sind auch die Konflikte angedeutet, die heute nicht zu übersehen sind, etwa um die Befreiungstheologie, die Ehepastoral, um Sinn und Aufgabe des Amtes, um die Prinzipien der kirchlichen Jugendarbeit oder den Schein in der Schwangerschaftsberatung.

Auf ihrem Weg durch die Zeit kann die Kirche auch Wahrheiten vergessen, sei es, daß sie falsche Akzente setzt, sei es, daß sie sich dem Geist der Zeit unbedacht anpaßt, sei es, daß sie nicht wagt, unliebsame Wahrheiten den Mächtigen der Staaten und den manipulierten Massen zu sagen. Man könnte viele Beispiele anführen. Unterschlagen sei auch nicht, daß die Kirche durch Schweigen und unchristliches Leben die Botschaft Jesu verraten und damit schuldig werden kann. Die Kirche ist und bleibt eine menschliche Kirche. Sie wird auch in Zukunft eine Kirche der Sünder bleiben. Gerade Papst Johannes Paul II. griff dieses Thema immer wieder auf, zuletzt in seiner beeindruckenden Vergebungsbitte.

Es sei nur auf die großen Herausforderungen in den letzten 100 Jahren hingewiesen: die soziale Frage und der ideologiefixierte Terror. Die soziale Frage war eine Folge der Industrialisierung. Gewiß hat die Kirche die Not der Arbeiter gehört und hat zunächst in vielen Ordensgenossenschaften darauf geantwortet, die damals gerade von unten, von sensiblen Frauen und Männern, gegründet wurden. Aber dies war eine karitative Antwort. Die Grundzüge einer sozialpolitischen Antwort finden sich zwar schon vor Karl Marx etwa bei Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteler, bei Franz Joseph Ritter von Buß und Adolf Kolping. Aber öffentlich hörbar verkündete sie Karl Marx im "Kommunistischen Manifest" (1848). Erst im Jahr 1891 veröffentlichte Papst Leo XIII. die erste Sozialenzyklika "Rerum novarum". Papst Pius XI. ließ im Jahr 1931 "Quadragesimo anno" folgen. Damit wurde der soziale Gedanke in der Kirche festgeschrieben. Es brauchte jedoch noch Jahre, bis sich die Kirche so eindeutig auf die Seite der Armen und Kleinen stellte wie die lateinamerikanischen Bischöfe bei ihren Versammlungen in Medellín (1968) und Puebla (1979) oder gar wie Erzbischof Oscar Romero, der wegen seines Engagements für Glaube und Gerechtigkeit am 24. März 1980 in San Salvador während der Feier der Eucharistie erschossen wurde.

Die zweite Herausforderung sind die ideologiefixierten Terrorsysteme des 20. Jahrhunderts. Unbestreitbar hat sich Papst Pius XI. (1922-1939) gegen den Bolschewismus und seinen Terror ausgesprochen. Er hat auch den Rassismus verworfen und in der Enzyklika "Mit brennender Sorge" (1937) eindeutig Stellung gegen den Nationalsozialismus bezogen. Aber die Verfolgung der Juden ging offensichtlich die Katholiken wenig an. Papst Pius XII. (1939-1958) hat zwar auf diplomatischem Weg zu intervenieren versucht, hat jedoch nicht laut und öffentlich protestiert. Nur einzelne engagierten sich für die verfolgten Juden, wie etwa der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg und seine Mitarbeiterin Margarete Sommer. Von den deutschen Katholiken in ihrer Gesamtheit wurde der Holocaust weithin verdrängt. Dies bleibt eine Schande.

Aus all dem kann und muß man lernen: In der Kirche wird es auch in Zukunft immer Schuld und Fehler geben, weil sie eine Kirche aus Menschen ist, die, wie die Heilige Schrift ständig betont, alle Sünder und auf die Gnade Gottes angewiesen sind.

Imperative

Angesichts dieser Wirklichkeit der Kirche gelten vor allem zwei Imperative: widerstehen und dableiben.

Zu widerstehen gilt es dem in der Kirche um sich greifenden Geist der Unzufriedenheit, dem ständigen Jammern, dem überall anzutreffenden "Frust". Diesen Verhaltensweisen liegt letztlich die Meinung zugrunde, man kenne mit Sicherheit den Weg der Kirche in ihre Zukunft. Dieser wird sich aber - und zwar als von Gott zugelassener Weg - erst aus dem Dialog und den Kompromissen zwischen den Meinungsgruppen in der Kirche ergeben. Erkennen läßt er sich erst in der Rückschau. Oder wäre ein neuer Stil von autoritärer Herrschaft durch die Räte oder durch die geistlichen Bewegungen wünschenswert? Doch wohl nicht. Geduld scheint auch hier sinnvoller - und den Menschen entsprechender - als jene wenig menschenfreundliche Ungeduld, die sich bedenkenlos über alle Tradition hinwegsetzen will und nur das Klima in der Kirche vergiftet.

Zu widerstehen gilt es auch jener Einstellung, die resignativ von der Kirche als der "kleinen Herde" träumt, die dann weder von einer Clique in der Idylle noch von einer Minderheit im Getto unterschieden werden kann. Gewiß muß man redlicherweise zugeben, daß die Volkskirche, wie sie sich vor allem im 19. Jahrhundert herausgebildet hat, dem Ende entgegengeht. Doch selbst wenn die kleine Herde unser Geschick wäre, dürfte sie auf keinen Fall der zusammengeschrumpfte Rest von früheren Besitzständen sein. Sie darf nur eine Kerngruppe werden, die sich nicht in sich selbst verschließt, sondern missionarisch ausgreift.

Es ist bekannt, daß auf progressive Phasen - wie heute das Zweite Vatikanische Konzil und die Würzburger Synode - gewöhnlich eher konservative Phasen folgen. Aber diese Tatsache befreit uns nicht davon, einer restaurativen Reaktion zu widerstehen, damit nicht aller Elan und alle Orientierung aus den Zeiten des Aufbruchs verlorengehen.

Dableiben: Allzu schnell geben viele Menschen in der heutigen Situation des Befragtwerdens und der Überforderung ihre Zugehörigkeit auf. Nun mag es viele Gründe geben, warum Christen aus ihrer Kirche austreten und sie verlassen: Der Glaube ist still und leise abhanden gekommen, gewissermaßen verdunstet, der Druck der sozialen Umwelt war übermächtig, die eigene Lebensgeschichte - man denke nur an Ehe und Sexualität - brachte in wirklichen oder vermeintlichen Gegensatz zu Lehre und Praxis der Kirche, oder die Kirchensteuer wird nicht mehr als sinnvoll angesehen. Es gibt auch die andere Möglichkeit, daß sich ein Katholik aus Anhänglichkeit an die Praxis und die Formen der Kirche in der Zeit seiner Eltern oder seiner eigenen Jugend von einer Kirche trennt, mit deren Entwicklung er sich nicht mehr identifizieren zu können meint. Die möglichen Gründe, die einen Christen zum Austritt aus seiner Kirche veranlassen können, sind vielfältig. Verallgemeinerungen und Verurteilungen helfen nicht weiter. Es ist immer der einzelne Mensch in seiner Lebensgeschichte zu würdigen.

Gegen einen Austritt steht die Erfahrung, daß sich die Kirche nur von innen heraus verändern läßt. Die großen charismatischen Aufbrüche - eines Franz von Assisi, einer Teresa von Avila, eines Ignatius von Loyola - kamen von unten, oder besser: aus der Mitte der Gläubigen. Sie trafen meist auf den Widerstand einer starren oder verweltlichten Kirche, setzten sich aber mit ihrem Engagement und ihrer Glaubensstärke durch. Sie gingen auch immer von der realen Kirche aus und erlagen nicht der Illusion, es könne eine Kirche ohne Sünde und Fehler, ohne Schuld und Versagen geben.

Der Ungeduldige kann und darf nicht übersehen, daß sich auch in der deutschen Kirche seit 1945 vieles verändert hat, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen der Kirche in Afrika (das Bibelteilen) oder in Lateinamerika (die Basisgemeinden). Neuer Geist kommt aus den jungen Kirchen in der Dritten Welt in die Kirchen des alten Europa zurück. Und die Ökumene gewinnt gerade dort an Lebendigkeit, wo die christlichen Kirchen mit dem modernen Atheismus und der Pluralität anderer Religionen konfrontiert sind. Wer den Neuaufbruch der Kirche miterleben und mitverantworten will, kann dies nur - gelassen und gefaßt - innerhalb der Kirche tun. Dazu gehören aber auch Träume von der Kirche.

Kirchenträume

Träume sind Tagesreste, deshalb kann nur jener Christ wirklich von Kirche träumen, der seine Erfahrungen mit der Kirche und in ihr über Jahre hinweg gesammelt hat, Erfahrungen mit dem kirchlichen Amt und mit vielen Laien, mit den Hauptamtlichen und den Ehrenamtlichen, mit vielen einzelnen und mit den Bewegungen (Orden, Verbände, geistliche Gruppen). Auf dem Hintergrund solcher Erfahrungen wachsen Träume:

Ich träume von einer Kirche, der die alltägliche und selbstlose Liebe wichtiger ist als die Lehren aus dem Katechismus und die Normen des Kirchenrechts.

Ich träume von einer Kirche, die nicht immer auf die Antworten aus Rom wartet, sondern sich auf den schöpferischen Geist verläßt, der allen Christen, Männern und Frauen, gegeben ist.

Ich träume von einer Kirche, die die Gleichheit aller Christen durchsetzt, die Würde der Frau sichtbar macht und endlich allen Klerikalismus überwindet.

Ich träume von einer Kirche, in der man nicht in Rom Bischöfe ernennt, die das Volk Gottes nicht annimmt und die am Ende weder der Wahrheit noch der Einheit dienen.

Ich träume von einer Kirche, die sich von den Menschen in Pflicht nehmen läßt: von den Armen und Kranken, von den Flüchtlingen, von den wiederverheirateten Geschiedenen, von den ungeborenen Kindern, von den Hungernden in der weiten Welt, von der nach Sinn verlangenden Jugend.

Ich träume von einer Kirche, die in der Verkündigung und in der Feier der Liturgie eine Sprache spricht, die zumal die jungen Menschen verstehen.

Ich träume von einer Kirche, die weder im Vatikan noch in den Ordinariaten meint, meinen Glauben bevormunden zu müssen.

Ich träume von einer Kirche, die zu feiern und zu beten versteht, die mit mir lachen und trauern kann, immer in Gemeinschaft mit allen Menschen.

Ich träume von einer Kirche des Amtes, die es der Wahrheit und Einheit wegen immer geben wird, die aber weiß, daß Autorität mit Liebe übersetzt werden muß und daß Amt nichts anderes als Dienst meint.

Ich träume von einer Kirche, die eine anziehende und wärmende Gemeinde ist und jeden einlädt und umschließt, der sich der armen und notleidenden Menschen wegen aufreibt.

Ich träume von einer Kirche, die das Wunder der Menschwerdung Gottes in vielen Wahrheiten bezeugt und auf vielen Glaubenswegen ausschöpft.

Ich träume von einer Kirche, die aus der Kraft des Heiligen Geistes die Spannungen aushält, die Konflikte bearbeitet und mit allen gemeinsam einen Weg der Liebe sucht und sich weisen läßt.

Ich träume von einer Kirche, die Hoffnung hat für die Welt und für einen jeden Menschen, weil sie den in ihrer Mitte hat, der alle Hoffnung begründet.

Ich träume von einer Kirche, die mich am Ende meines Lebens begleitet und mir in meinen letzten Atemzug hineinruft: Du wirst ewig leben.

Träumen ist allerdings auch gefährlich. In der Josephsgeschichte des Alten Testaments lesen wir, wie seine Brüder den Plan faßten, ihn umzubringen. Als er kam, sagten sie: "Dort kommt ja dieser Träumer" (Gen 37, 18 f.). Sie brachten jedoch Joseph nicht um, sondern "entsorgten" ihn zuerst in einer Zisterne. Dann verkauften sie ihn an die vorbeikommenden Händler. Aber am Ende erfüllte sich sein Traum: Als Verwalter des Pharao rettete er seine Brüder - und nicht zuletzt seinen alten Vater. Auch Träumer können mit der Gnade Gottes recht bekommen. Diese Erfahrung bestärkt ihre Zuversicht auch heute.

Stimmen der Zeit (2000) 651-658

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