Darwins Theorie - nicht nur für AtheistenBemerkungen zum unvermeidlich Schöpferischen an der Evolution

Vor 200 Jahren, am 12. Februar 1809, wurde Charles Darwin geboren. Seine Theorie war eine Antwort auf die zu seiner Zeit in der Luft liegende Frage nach der Konstanz oder Veränderlichkeit der Arten. Sie müßte keine Theologie beinhalten. Die Lebewesen könnten gleich gut veränderlich wie unveränderlich von Gott geschaffen sein, oder eben nicht. Was die Frage von allem Anfang theologisch brisant machte, hat mit unserem Staunen vor der ungeheuren Vielfalt und Komplexität der Organismen zu tun. Angesichts eines schneebedeckten Berggipfels in der Morgensonne kann ich als Gläubiger zu Gott aufblicken, weil mich ein Gefühl der Erhabenheit ergriffen hat. Die Kenntnis der zur Entstehung der Alpenkette führenden geologischen Prozesse tut dem keinen Abbruch und ist auch kein Ersatz dafür.

Anders ist dies bei unserer Einstellung gegenüber dem Lebendigen. Hier geht die Frage nach dem Zustandekommen der Unwahrscheinlichkeit und Zweckmäßigkeit seiner Bildungen unwillkürlich in unser Staunen mit ein, weil wir mit Lebewesen in einem viel zu unmittelbaren Sinn verbunden sind, als daß wir sie als bloße Symbole nehmen könnten wie einen Berg. Richard Dawkins hat in einem seiner besten Bücher(1) über Darwins Theorie diesen Vergleich aufgenommen, um die religiöse Ehrfurcht vor der Vielfalt des Lebendigen zu desavouieren: Mount Improbable, Gipfel des Unwahrscheinlichen, sei das Leben nur für den Frommen. Mit Darwins Theorie aber gäbe es einen Weg, um auf diesen Gipfel zu kommen: Climbing Mount Improbable! Die Route sei zwar lang, aber leicht, weil sie nicht die schroffe Vorderseite bezwingen will, sondern hinten herum, von der Rückseite aus den Berg als besteigbaren grünen Rücken entlarvt. Die Botschaft des Bildes ist klar: Emanzipiert von Gott, als mechanistische Theorie, ist das Rätsel des Lebendigen lösbar. Damit ist mit Darwin der Atheismus der modernen Biologie in die Wiege gelegt.

Degradierte Universalwissenschaft

Viel ist seither über die Berechtigung eines solchen methodischen Atheismus oder, besser, Naturalismus räsoniert worden. Seine Berechtigung als naturwissenschaftliche Vorgehensweise steht heutzutage außer Frage. Naturforschung blendet definitionsgemäß die Sinnfrage aus, ohne sie darum für falsch oder überflüssig zu erklären, heißt es. Hier wittert der Theologe Morgenluft und nimmt die Gelegenheit wahr, ein extra für ihn reserviertes Terrain zu besetzen. Er beeilt sich denn auch, von verschiedenen Zugängen zur Wirklichkeit zu sprechen, die alle ihre Berechtigung besäßen: neben dem naturwissenschaftlichen der künstlerische, musische, poetische, philosophische usw. - und eben auch der theologische. Nur hat dieses Angebot zur friedlichen Koexistenz den Geruch des Selbstbetrugs und ist Augenwischerei. Kein Dichter oder Maler beansprucht, mit seiner Kunst die Welt im ganzen zu erklären. Solche Zugänge sind von vornherein subjektiv und partikulär. Nicht so die naturwissenschaftliche Weltsicht, und schon gar nicht die Theologie. Ihr Anspruch ist total: Es gibt keinen Bereich zwischen Himmel und Erde, den sie ausklammerte. „Scientiae universales" waren in der klassischen Einteilung die Philosophie und die Theologie - Universalwissenschaften, die nach dem Ganzen des Seins fragten und sich als solche von den „Einzelwissenschaften" mit ihrer beschränkten Methodik abhoben.

Von dieser selbstbewußten Aufteilung ist nicht mehr viel übriggeblieben. Mehr und mehr Anteile der Wirklichkeitserklärung sind den Naturwissenschaften zugefallen; die methodische Beschränkung auf sinnfreie Begründungen hat sich überaus bewährt. Auch in der Philosophie will sich kaum ein moderner Vertreter mehr mit dem Anspruch umfassender Wirklichkeitserklärung umgeben. „Genitivistische Kulturwissenschaft" sei sie (als Philosophie „der" Mathematik, Biologie, Kunst, Soziologie usw.), so der Münchener Wissenschaftsphilosoph Carlos U. Moulines: ein Nachdenken über die verschiedenen Bereiche menschlicher Kulturleistungen, und insofern zwar metatheoretisch auf alles anwendbar, aber thematisch durchaus partikulär und nicht auf das Sein als Ganzes abzielend(2). Die vom Thron gestoßene Theologie versucht es nun mit der Selbstbescheidung auf einen alternativen Weltzugang. Da ist die Ablehnung programmiert. Naturwissenschaftler halten dieses Alternativangebot in der Regel für beliebig oder überflüssig. Es ist hier wie mit der Musik: Wer mag, darf sie ruhig betreiben, aber wer nicht mag, dem geht ohne sie nichts ab.

„Realwissenschaften" sind die solcherart erstarkten Naturwissenschaften geworden, meint der Kasseler Evolutionsbiologe Ulrich Kutschera, und stellt sie als solche den zu bloßen „Verbalwissenschaften" degradierten Geisteswissenschaften gegenüber, in deren Chor sich auch die Philosophie und Theologie einzureihen haben. Dagegen läßt sich protestieren, wie es der Friedrichshafener Kulturtheoretiker Remigius Bunia in einer Replik auf Kutschera auch getan hat(3). Er lasse sich gern als „Verbalwissenschaftler" bezeichnen; nur habe er etwas gegen die Vereinnahmung des Attributs „real" ausschließlich durch die andere Seite, so als hätten die Naturwissenschaften die ganze Realität für sich gepachtet, und dies auch noch ohne Rücksicht auf die Vermittlungsfunktion der Sprache. - Wenn die eine Seite der Wissenschaften sich schon als Verbalwissenschaften titulieren läßt, so könnte man resümierend zu dieser Auseinandersetzung hinzufügen, dann stünde es der anderen Seite wohl an, sich mit derselben Bescheidenheit als „Laborwissenschaften" zu bezeichnen. Mit Realität, ob als Sprache oder Natur, haben sie beide zu tun.

Wie real sind evolutionäre Erklärungen?

Wenn man nun vor diesem Hintergrund untersucht, wie „real" die Erklärungen der Evolutionstheorie sind, wird einem erschreckend schnell klar, wie viel sprachliche Formulierung, um nicht zu sagen Erzählkunst, zur theoretischen Unterfütterung der vorhandenen Tatsachen verwendet wird. Vor allem Physiker sind immer wieder erstaunt, wenn sie über der Lektüre von Darwins Werken entdecken müssen, auf wie schwachen Füßen, verglichen mit ihren Standards, die fundamentale Theorie der Biologie steht. Um nicht mißverstanden zu werden: Ich zweifle nicht an der Richtigkeit von Darwins Theorie, und ich teile auch ihre Intuition, daß die Vielfalt des Lebendigen sich am besten evolutionär erklären läßt, aber ich muß Kritikern gegenüber gleichzeitig zugeben, daß die Mehrzahl evolutionsbiologischer Rekonstruktionen empirisch wenig belastbar ist. Wenn Biologen hierüber in Rage geraten, zeigt das in der Regel nur, wie wenig von Darwins „Entstehung der Arten" sie wirklich gelesen haben. Alle Formulierungskunst späterer Interpreten der Evolutionstheorie, angefangen von Ernst Haeckel (1834-1919) bis hin zu Richard Dawkins, tragen kaum zu einer Verbesserung dieser Situation bei.

Zur Bestätigung braucht man nur einen Blick in eines der letzten Bücher des Altmeisters der synthetischen Evolutionstheorie, Ernst Mayr, zu werfen: das 2003 in deutscher Übersetzung erschienene „Das ist Evolution"(4). Natürlich wird darin die Bedeutung der „natürlichen Zuchtwahl", der Selektion, lang und breit ausgeführt, und das zu Recht. Es ist Darwins bleibende Leistung, die Veränderung der Arten in der Natur in Analogie zu unseren Züchtungsbedingungen verständlich gemacht zu haben. Aber gerade weil diese Selektionstheorie generell auf alles anwendbar ist, was in zahlenmäßiger Konkurrenz zu irgendwelchen Ressourcen steht, ist ihre Gültigkeit evident, um nicht zu sagen trivial. (Es tut dieser Feststellung keinen Abbruch, daß es den Biologen bis zur Zeit Darwins nicht gelungen war, diese Einsicht zu formulieren.) Das große Problem aber, auf welche Art von Veränderungen die natürliche Selektion einwirkt, wird auch bei Mayr immer noch auf rein mikroevolutivem Weg gelöst. Hier ist, trotz aller Bemühung der Populationsgenetik, immer noch kein paradigmatischer Wechsel zu Darwins Denken erfolgt. Für ihn waren bekanntlich die Galápagos-Finken, zumindest im nachhinein, ein wunderbarer Beleg dafür, wie die natürliche Variation der Schnabelform durch das Wirken der Selektion in eine Stufenreihe von dünnen zu dicksten Schnäbeln mündet(5). In einem allmählichen Prozeß sollten so über Hunderttausende von Jahren die einzelnen, auf unterschiedlichen Nahrungserwerb spezialisierten Finkenarten aus einem gemeinsamen Urahn hervorgegangen sein(6).

Heute weiß man vor allem durch die jahrzehntelange Feldforschung des Ehepaars Grant, daß die Änderung der Schnabelform eine ziemlich abrupte Angelegenheit ist und innerhalb weniger Jahre erfolgen kann(7). Ein einziges Gen, dessen Aktivitätsrate die Produktion von Schnabelprotein reguliert, ist dafür „verantwortlich". Es beeinflußt die Schnabelgröße in direkter Korrelation zu Veränderungen im Nahrungsangebot von einer Generation auf die andere. In Dürreperioden nimmt so rasch die Zahl möglichst dicker Schnäbel zu, weil diese geeignet sind, auch die hartschaligsten Samen noch zu knacken. Auf der anderen Seite hat aber auch die Gegenstrategie, die Ausbildung dünnerer Schnäbel, eine Chance, weil damit eine neue Form des Nahrungserwerbs, das Stochern nach Insekten, erfolgreich ist. Nur die breite mittelmäßige Mehrheit, deren Schnäbel weder besonders dünn noch dick sind, fällt der Selektion schnell zum Opfer. - Es sollte also ziemlich rasch gegangen sein, bis sich die 13 Finkenarten herausgebildet haben, welche die einzelnen Inseln des Galápagos-Archipels in unterschiedlichen Kombinationen heute besiedeln. Man kann ja auch zweifeln, ob die Geschwindigkeit eines Prozesses, der zwei bis drei Millionen Jahre (so alt schätzt man die Inseln) benötigt, um auch nur Änderungen in der Schnabelgröße hervorzubringen, wirklich genügt, um in der zur Verfügung stehenden Zeit (etwa das 500fache davon) die gesamte organische Vielfalt zu erzeugen.

Man mag einwenden, daß das gewählte Beispiel gar zu engmaschig in seiner Aussagekraft sei und die „adaptive Radiation", die Auffächerung durch Anpassung in verschiedene Lebensräume, für die es steht, nicht die einzige Form evolutionärer Erklärung darstellt. Mir scheint aber, daß die empirischen Belege selektionstheoretischer Erklärungen insgesamt von mehr oder weniger derselben Art sind und keineswegs die weitreichenden Folgerungen absichern können, die auf ihrer Grundlage gezogen werden. Was die natürliche Zuchtwahl unmittelbar einsichtig macht, ist, daß „jedes Geschöpf einer immer größeren Verbesserung im Verhältnis zu seinen Lebensbedingungen entgegenstrebt", wie Darwin im vierten Kapitel seiner „Entstehung der Arten" schreibt(8). Daß aber, wie er an derselben Stelle fortfährt, daraus „unvermeidlich" die „stufenweise Vervollkommnung der Organisation bei der Mehrheit der über die ganze Erdoberfläche verbreiteten Wesen" würde, ist eine kühne, empirisch bisher nicht abgesicherte Extrapolation. Gewiß gibt es Belege dafür, daß die Intuition einer stufenweisen Vervollkommnung nicht falsch sein muß; die Ausbildung der Augentypen bei den Weichtieren vom einfachen Augenfleck bis hin zum zusammengesetzten Linsenauge ist wohl das beste Beispiel dafür(9). Aber solche Beispiele sind eher die Ausnahme als die Regel, und selbst sie sind, als typologisch erstellte Stufenreihen, von der mechanistischen Erklärungsschärfe bei der Schnabel-Radiation der Darwinfinken weit genug entfernt. Ich halte dieses Eingeständnis für keinen ernsthaften Einwand gegen die Evolutionstheorie, denn wie anders als „im Licht der Evolution"(10) sollte man die erwähnte Augenreihe deuten? Aber man sollte sich klar darüber sein, auf welcher Grundlage diese Deutung geschieht. Es ist viel eher die - durchaus plausible - Überzeugung einer generellen Fähigkeit des Lebendigen zur Transformation, auf der solche Erklärungen basieren, als eine genaue Kenntnis der dazu von der Theorie geforderten Einzelschritte.(Würde man auf ihre Aufklärung stets und überall pochen, wäre Biologie zweifelloseine höchst langweilige Angelegenheit.)

Was für die stufenweise Vervollkommnung von Organen gilt, ist für die stammesgeschichtliche Herleitung der Großbaupläne erst recht zuzugeben. Unsere Unkenntnis darüber wird in der Regel auch von eingefleischten Evolutionsbiologen anerkannt. Und doch wird die Mehrzahl von ihnen behaupten, daß sich die Entstehung eines neuen Bauplans genauso als Folge mikroevolutiver Veränderungen herleiten läßt, wie der Wandel in der Schnabelform bei den Galápagos-Finken. Ebenso sei die Entstehung mentaler Eigenschaften erklärbar als „Emergenzeffekt" immer komplexerer Nervensysteme und die Zweiteilung der Wirklichkeit in Materie und Geist unvereinbar mit der Evolutionstheorie. Schließlich seien auch alle kulturellen Leistungen des Menschen, da er ja selber Produkt der Evolution ist, unter evolutionsbiologischer Rücksicht als Anpassungsvorteile zu beurteilen: Soziobiologie als die „new synthesis" nicht nur aller biologischen Disziplinen(11), sondern sämtlicher Wissensgebiete überhaupt - womit die Biologie am Ende des 20. Jahrhunderts zur neuen Universalwissenschaft avancierte(12). Ganz auf dieser Linie argumentiert auch Kutschera in seiner Erwiderung auf die erwähnte Kritik von Bunia:

„Denken aber ist ein biologischer Vorgang und das Verständnis seiner Produkte deswegen Sache der Biologie. Das ist natürlich wegen der Komplexität des Gehirns erst seit kurzem und auch erst in Ansätzen analysierbar. So hat die Biologie dem Problem der Willensfreiheit eine reale Grundlage gegeben. Erst die Biologie wird imstande sein, zu sagen, was ,Intelligenz' ist und wie sie zu messen sei. Also gilt: Nur im Lichte der Biologie können geistige Produktionen sinnvoll ergründet und verstanden werden."(13)

Metaphysische Hintergrundannahmen

Wie man sieht, hat sich hier der evolutionsbiologische Erklärungsanspruch meilenweit von seinen durch die Theorie gedeckten Wurzeln entfernt, die gerade einmal dazu taugen, die Formen von Finkenschnäbeln verständlich zu machen. Wie viel an dieser stufenweisen Erweiterung der Erklärung noch „real" ist, sei dahingestellt. Aber selbst wenn es Kutschera nicht ganz ernst sein sollte mit diesem Statement (was zu hoffen ist), sollte er zugeben, daß es die Sprache ist, die hier ein Denkgebäude hochzieht, und nicht die Datenlage, die unausweichlich zu solchen Schlußfolgerungen zwingt. „Naturalismus" heißt dieses Gebäude, und dieser Name steht für ein Programm, nämlich die Überzeugung, daß alle Wirklichkeit mit natürlichen, und das heißt letztlich naturwissenschaftlichen Mitteln erklärbar ist. Nicht mehr von der eingangs beschriebenen methodischen Beschränkung auf das naturwissenschaftlich Erklärbare an der Wirklichkeit ist damit die Rede, sondern von deren Umkehrung: Nur noch das naturwissenschaftlich Erklärbare gilt fortan als Wirklichkeit.

An diesem Punkt der Bewertung des Geltungsbereichs des Naturalismus unterscheiden sich in der Regel die (mit mehr Methodenbewußtsein ausgestatteten) Physiker von den (Evolutions-) Biologen, denn diese Verkehrung des methodologischen in einen ontologischen Naturalismus ist kein „kritischer Realismus" (wie Kutschera meint), sondern Metaphysik. Es ist erstaunlich, wie viel metaphysische Zusatzannahmen zu machen sind, um die oben skizzierte Reihe evolutionärer Erklärungsansprüche zu rechtfertigen bzw. zu begründen. Theologen mag es in den Fingern jucken, in diese unüberbrückten Sprünge schöpfungstheologische Erklärungen einzufüllen, aber sie sollten sich gedulden.

Naturalisten à la Kutschera werden sich vermutlich dagegen verwahren, daß ihr Denksystem mit Metaphysik durchsetzt sei. Sie grenzen ihren Naturalismus schlicht von einem Supranaturalismus ab, der irgendwelche außernatürlichen Wesen wie Götter, Geister und Dämonen, Engel oder Demiurgen bemüht, um das Unverstandene an der Wirklichkeit zu erklären. Eine derartige Karikatur hat indessen mit echter Metaphysik zumindest seit Aristoteles nichts zu tun. Ihr geht es um die Frage nach den letzten Gründen des „Seins", d.h. um die Frage, welche Prinzipien (nicht Fabelwesen) ich annehmen muß, um die Wirklichkeit in einem möglichst wenig eingeengten Sinn zu erklären. Damit verbunden ist notwendig auch die Angabe der ungeklärten bzw. nicht mehr erklärbaren Voraussetzungen, die man bei einem solchen umfassenden Versuch der Wirklichkeitsbestimmung machen muß.

Zum Beispiel: Wenn ein Naturalist erklärt, eine Zielursache sei bisher in der naturwissenschaftlichen Forschung nicht gefunden worden, kann man nur kontern: Wie sollte sie auch? Sie ist keine Entität, die ich entdecken könnte wie einen neuen Planeten, sondern ein Prinzip, eine Denkvoraussetzung für eine bestimmte Art der Wirklichkeitsbeschreibung. Wenn ich diese von vornherein auf das Hempel-Oppenheim-Schema einschränke (d.h. die Angabe eines allgemeinen Gesetzes, mit dessen Hilfe sich ein Phänomen aus bestimmten Voraussetzungen oder „Antezedensbedingungen" folgerichtig ergibt), werde ich immer nur Wirkursachen in der Realität „vorfinden" und niemals Zielursachen. Wenn ich aber einem Organ wie dem Auge eine bestimmte Funktion zuschreibe oder auch nur einen Selektionsvorteil, bedeutet das für seinen Besitzer einen Wert: Es ist wertvoll und gut für ihn, ein Auge zu haben, weil das Auge einen bestimmten Zweck für sein Dasein erfüllt. Damit ist die Zweckursache nicht gefunden, sondern als Prinzip bzw. Voraussetzung einer (hoffentlich) angemessenen Beschreibung von Lebewesen eingeführt. Das ist die Metaphysik, um die es hier geht, nicht ein kruder Supranaturalismus, und solche metaphysischen Hintergrundannahmen sind unausweichlich. Der Naturalist hat sie genauso („Nur das Hempel-Oppenheim-Schema soll zählen!") wieder Anti- (nicht Supra-) Naturalist („Lebewesen sind Zwecke an sich selbst"). Nur wer meint, „Real-" gegen „Verbalwissenschaften" ausspielen zu müssen, kann blindsein für die Prinzipien, die seinen Beschreibungsrahmen bestimmen.

Metaphysische Voraussetzungen gibt es also hier wie dort. Warum dann nicht denStier bei den Hörnern packen und die metaphysischen Implikationen benennen, die einen umfassenden Evolutionsbegriff erlauben, statt ihre Unvermeidbarkeit konsequent zu verdrängen? Eine solche positiv vollzogene und nicht nur uneingestandene metaphysische Erweiterung könnte in einer dualistischen Konzeption des Materiebegriffs bestehen. Die Materie hätte dann neben einer - der naturwissenschaftlichen Betrachtung allein zugänglichen - „Außenseite" immer schon eine damit korrespondierende, aber nicht darauf reduzierbare „Innenseite". So befremdlich eine derartige Position auf Hardcore-Naturwissenschaftler wirken mag, sie wird innerhalb der „Philosophie des Geistes" ernsthaft diskutiert, weil damit dem Problem der Entstehung mentaler Eigenschaften leichter beizukommen ist: Das Phänomen des Mentalen verliert viel von seinem Geheimnischarakter, wenn es in „protopsychischer" Weise immer schon in materiellen Konstellationen vorhanden ist und darin ab einem gewissen, auf evolutivem Weg erreichten Komplexitätsgrad empirisch in Erscheinung tritt. Dieses Auftreten wäre dann nur eine „schwache" Emergenz, die aus bestimmten Systembedingungen ableitbar ist, und mit den Naturgesetzen nicht in Widerspruch zu stehen bräuchte. Phänomenologisch wäre damit die Einheit des evolutiven Zusammenhangs gewahrt - allerdings um den Preis einer prinzipiell dualistisch konzipierten Materie. Das impliziert aber nicht notwendigerweise einen strikten Substanz-Dualismus (vor dem auch viele Theologen heutzutage eine panische Angst zeigen), sondern könnte in Analogie zum „Welle-Teilchen-Dualismus" der Physik als beschreibungsbedingte Komplementarität gefaßt werden.

Ein dualistisches Evolutionsmodell

Lange vor der Renaissance protopsychistischer Ansätze in der Philosophie hat Pierre Teilhard de Chardin SJ (1881-1955) einen solchen dualistischen Materiebegriff vertreten und mit dem Begriffspaar der „radial-tangentialen Energie" für die Erklärung von Evolution fruchtbar gemacht. Er ist nach meinem Dafürhalten immer noch geeignet, das Schöpferische an der Evolution, die Entstehung von wirklich Neuem, herauszustellen, statt es, wie in naturalistischen Ansätzen, aus Erklärungsnot unterzubewerten bzw. zu ignorieren. Zwei Vorbemerkungen sind dazu allerdings nötig. Zunächst mag es für Teilhard-Kenner verwunderlich erscheinen, daß ich seinen Ansatz als dualistisch charakterisiere, wo er selbst doch nicht müde wurde, die phänomenale Einheit des „Weltstoffs" zu betonen und in Materie und Geist nur die zwei Richtungen des „Woher" und „Woraufhin" der einen evolutiven Bewegung zu sehen. Ich weiß aber nicht, ob mit einer Verlagerung des Dualismus auf die Ebene bloßer Erklärungsprinzipien der Anspruch einer monistischen Wirklichkeitsauffassung zu retten ist, noch, ob mit einer solchen Rettung wirklich etwas gewonnen wäre. Sie würde bedeuten, daß wir nicht anders können, als die Erklärung der Gesamtwirklichkeit dualistisch auszudrücken, ohne daß damit die „wahre" oder „eigentliche" Struktur der Wirklichkeit wiedergegeben wäre. Ein bloß methodologischer Dualismus wäre das dann - gegenüber einem wirklich ontologischen. Was soll aber diese Unterscheidung im Hinblick auf metaphysische Erklärungen, die ja gerade auf dem - unbeweisbaren - Axiom beruhen, daß es eine Entsprechung zwischen unserer Sprach- bzw. Denkstruktur und der durch sie ausgedrückten Wirklichkeit gibt? Diese Voraussetzung muß man nicht teilen; man stellt sich dann eben außerhalb eines solchen „metaphysischen Realismus". Wenn man ihn aber akzeptiert - und wer würde leugnen, daß das in Teilhards System der Fall ist -, dann sehe ich nicht, wie man es von einer dualistischen Konnotation freisprechen könnte. Dieses Eingeständnis bedeutet, wie gesagt, nicht sofort einen Substanz-Dualismus und ist damit auch keine Verneinung des evolutiven Zusammenhangs.

Die zweite Vorbemerkung betrifft Teilhards Verwendung der Vokabel „Energie". Sie hat nichts mit der physikalischen Bedeutung dieses Begriffs zu tun, sondern korrespondiert viel eher mit der aristotelischen enérgeia: der „Wirklichkeit" der Naturdinge, die durch die Dynamik aktiver Veränderung, durch Werden, gekennzeichnet ist. Für uns sind solche „Naturdinge" in erster Linie die Lebewesen, und ihre „Energie" ist die Fähigkeit zur Entwicklung, und nicht bloß eine physikalische Größe. Diese ist selbstverständlich (wenn man das noch eigens betonen muß) auch für Entwicklung vonnöten, wie für jeden anderen Lebensvorgang auch, aber nur im Sinn einer allgemeinen thermodynamischen Voraussetzung, und nicht als spezifische Qualität, auf die es Aristoteles ankommt. So viel zur Unterscheidung des Energiebegriffs bei Teilhard von dem der Physik - nicht aus schulmeisterlichen Gründen, sondern um den Leser davor zu bewahren, sich durch das Vorurteil einer vermeintlichen physikalischen Überholtheit um den Wert zu bringen, den Teilhards „Energiemodell" für das Verständnis von evolutiver Komplexitätszunahme haben kann.

Nach diesen Vorbemerkungen also zur Erklärung dieses Energie-Modells. „Erklärung" deshalb, weil es sich nicht einfach nur um die Wiedergabe dessen handelt, was Teilhard in seinem Hauptwerk „Der Mensch im Kosmos" unter der Überschrift „Qualitative Gesetze des Wachstums" in nicht sehr konsequenter Begrifflichkeit darstellt(14), sondern um eine modellhafte Schematisierung daraus. Zunächst zur„tangentialen Energie". Sie kennzeichnet einen natürlichen Gegenstand als das, was er seiner der naturwissenschaftlichen Beschreibung zugänglichen „Außenseite" nach ist: ein materielles Gebilde von bestimmter Komplexität und Veränderlichkeit. Da ist nichts, was ein solches Naturding („Korpuskel" würde Teilhard dazu mit seiner Vorliebe für eine erweiternde Umdeutung physikalischer Begriffe sagen) von einer naturalistischen Definition materieller Dinge unterscheidet: Materiell ist, was der Veränderung unterliegt(15).

Der Unterschied wird freilich sogleich sichtbar, wenn wir die „Innenseite" einer solchen Materieanordnung betrachten. Hier ist die „radiale Energie" das Maß für die Komplexität dieser Anordnung. Was soll das heißen? Komplexität bestimmt sich nicht allein durch die Zahl der am Aufbau einer materiellen Konstellation beteiligten Elemente, sondern durch deren innere Verbindungen zueinander. Komplexität, so könnte man im Anschluß an Mario Bunge und Martin Mahner auch sagen, definiert sich durch das Verhältnis von bindenden zu nichtbindenden Relationen in einem System(16). Komplexität kommt also zustande durch die systemische Einheit der Elemente einer materiellen Anordnung. Genau diesen Einheitsaspekt will Teilhard mit der radialen Energie beschreiben, und zwar unter doppelter Rücksicht: als Zustand des Geeintseins und als Vermögen zur Einigung der System-Elemente.

War die tangentiale Energie Grund für die Veränderbarkeit einer materiellen Anordnung, so ist die radiale Energie Ausdruck ihrer Einheit, und zwar in doppelter Hinsicht: Eine Veränderung der systemischen Einheit beginnt immer auf der tangentialen Außenseite der Elemente. Diese treten in Kontakt zueinander und interagieren. Das kann vorübergehend oder dauerhaft sein. Vorübergehende Veränderungen sind genauso wie Verminderungen der Einheit unter evolutiver Rücksicht uninteressant und sollen hier nicht weiter betrachtet werden. Dauerhafte Veränderung kann zu einer quantitativen oder qualitativen Erhöhung der systemischen Einheit führen. Im ersten Fall werden nur neue Elemente in ein bestehendes System inkorporiert, wodurch dessen bindende Relationen zwar der Zahl, nicht aber dem Anteil nach verändert werden. Der Komplexitätsgrad des Systems wird dadurch nicht berührt.

 

Im zweiten Fall einer qualitativen Veränderung der systemischen Einheit wird durch den tangentialen Kontakt auch die radiale Energie erhöht. Wie soll man sich das vorstellen? Im Bild: Wenn wir uns eine teilhardsche Korpuskel, also eine materielle Anordnung mit gewisser Komplexität als Kugel einer bestimmten Größe vorstellen, dann symbolisiert deren Oberfläche die tangentiale Energie und die Größe ihre Komplexität. Die Höhe der Komplexität ist also durch den Radius der Kugel bestimmt - daher (wohl) die Bezeichnung „radiale" Energie. Tritt nun eine Anzahl solcher Kugeln derart dicht zusammen, daß ihre Oberflächen sich berühren, können auch ihre radialen Energien miteinander interagieren. Passen sie nicht zusammen, fällt das im Entstehen befindliche neue System wieder auseinander, und es bleibt von ihm nichts als eine vorübergehende Irritation der Ausgangszustände der beteiligten Elemente. Passen die radialen Energien aber zueinander, wird aus der Interaktion eine Integration derart, daß die einzelnen Kugelradien sich auf einen neuen gemeinsamen Mittelpunkt hin verlängern. Eine Korpuskel mit höherer Komplexität und größerer systemischer Einheit ist entstanden.

Das Schöpferische an der Evolution

Teilhard nennt diesen Vorgang „Überzentrierung". Er korrespondiert mit dem, was Systemtheoretiker mit „Strukturemergenz" bezeichnen und Evolutionsbiologen mit ihrer Überzeugung von der generellen Transformierbarkeit des Lebendigen von Darwins Theorie erwarten. Und dieses Modell legt auch offen, worin das eigentlich Schöpferische am Vorgang der Höherentwicklung besteht: in der Verlängerung der radialen Energiepfeile über die bisherigen Grenzen hinaus auf ein neues gemeinsames Zentrum hin. Schöpfung bedeutet theologisch immer Erschaffung aus nichts. Diese nicht aus der Eigenleistung der Korpuskel ableitbare Erhöhung der radialen Energiebeiträge ist genau das Schöpferische an diesem Vorgang, und es bedarf einer eigenen Ursache. Aber nicht in dem Sinn, daß Gott ans radiale Vermögen „dranstückelte", was das Geschöpf, sprich die Korpuskel, aus eigener Kraft nicht kann, sondern so, daß Gott dem Geschöpf diese Eigenleistung ermöglicht.

Radiale Energie heißt, geeint sein und einigungsfähig sein. Das gilt nun nicht nur nach innen, bezogen auf das Einheitszentrum der Korpuskel selbst (im Bild: den Mittelpunkt der Kugel), sondern auch nach außen, über die Grenzen der vorhandenen Einheit hinweg. Weil den Korpuskeln eine Einigungsdynamik zukommt, die auf ein Zentrum jenseits aller erreichten Grenzen abzielt, sind sie, unter bestimmten äußeren Umständen, zum Transzendieren des eigenen Einigungspotentials fähig. Gott als Schöpfer ist die ermöglichende Ursache der evolutiven Einigungsbewegung seiner Geschöpfe, weil er als letztes Ziel diese Einigungsdynamik über alle vorläufigen Grenzen in Gang hält. Die Geschöpfe sind aber ebenso die Ursache des ihre eigenen Grenzen transzendierenden Einigungsvermögens, weil es wirklich ihre Dynamik ist, die das vollbringt. Selbsttranszendenz, Höherentwicklung, strukturelle Emergenz - wie immer man dieses Phänomen bezeichnen will: Es kommt ganz von Gott und ganz vom Geschöpf. Das ist es, was Teilhard mit seiner berühmten Formel aussagen will: „Gott macht, daß die Dinge sich machen" (Dieu faisant se faire les choses)(17).

Evolution ist also beileibe nicht nur etwas für Atheisten. Sie erlaubt uns einen von aller Hersteller-Anthropozentrik gereinigten Schöpfungsbegriff. Dieser erlaubt seinerseits, auch da noch von Evolution zu reden, wo die naturalistische Erklärung in Sackgassen gerät. Die dafür notwendige metaphysische Voraussetzung eines dualistischen Materiebegriffs mag dem Naturalisten als Kaufpreis zu hoch sein. Die Investition zahlt sich aber aus, wenn man bedenkt, daß sie dem Paradigma des Evolutiven eine Anwendbarkeit über den Geltungsbereich des Lebendigen hinaus eröffnet - von den Anfängen des Kosmos bis hin zur „Emergenz" des Geistigen. Teilhard de Chardin hat so ein System der Evolution entworfen, das zu leisten imstande ist, was in Darwins Theorie dem Anspruch nach steckt. Freilich ist das nur ein Denksystem und als solches kein Ersatz für die zugrundeliegenden kausalen Mechanismen. Wohl aber ist es eine Aufforderung, die Suche danach nicht vorzeitig einzustellen.

Stimmen der Zeit (2009) 162-172

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