Warum dürfen wiederverheiratete Geschiedene (nicht) zu den Sakramenten zugelassen werden?

Nach der herkömmlichen kirchlichen Lehre gilt die Ehe als vertragliches Rechtsverhältnis; daher dürfen wiederverheiratete Geschiedene nicht zu den Sakramenten der Buße und der Eucharistie zuge­lassen werden, solange sie Geschlechtsgemeinschaft miteinander pflegen. Das Zweite Vatikanische Konzil hat demgegenüber das biblische Verständnis der Ehe als Lebens- und Liebesgemeinschaft erneu­ert. Matthäus Kaiser, Professor für Kirchenrecht an der Universität Regensburg, macht deutlich, daß sich daraus auch für den Sakramentenempfang zwangsläufig andere Konsequenzen ergeben.

Das Scheitern einer Ehe wird von den Betroffenen in der Regel schmerzlich erlebt. Viele von ihnen finden in einer Wiederheirat mit einem neuen Partner Heilung der erlittenen Verwundung. In der öffentlichen Meinung haftet heute weder der Scheidung noch der Wiederheirat ein Makel an. Darum wird die herkömmliche Lehre und Praxis der katholischen Kirche hinsichtlich der Wiederheirat Geschiedener weithin nicht mehr verstanden. Lautstark wird eine Änderung verlangt. Da und dort wird gefordert, das Kirchenrecht solle geändert werden, damit Geschiedene, die wieder geheiratet haben, zum Empfang von Sakramenten, zumal der Eucharistie zugelassen werden können. Mit Recht wird darauf hingewiesen, daß jede Sünde, selbst die Sünde des Mordes und auch die Sünde des Ehebruchs, vergeben werden kann.

Die herkömmliche kirchliche Lehre und Praxis

In jüngster Zeit wurde wiederholt in päpstlichen Verlautbarungen die herkömmliche kirchliche Lehre und Praxis als unaufgebbar bekräftigt1. Nach dieser Lehre sind Geschiedene, die vor dem Standesbeamten eine neue Ehe eingehen, nicht von der Kirche ausgeschlossen. Als Getaufte können sie weiterhin am kirchlichen Leben teilnehmen. Aber zum Empfang der Sakramente der Buße und der Eucharistie dürfen sie nur zugelassen werden, wenn sie sich verpflichten, auf die geschlechtliche Vereinigung zu verzichten.

Mit anderen Worten: Nach der herkömmlichen kirchlichen Lehre und Praxis können Geschiedene nach einer Wiederheirat zusammen mit ihrem neuen Partner deswegen nicht zu den Sakramenten der Buße und der Eucharistie zugelassen werden, weil sie ständig in der schweren Sünde des Ehebruchs leben, solange sie Geschlechtsgemeinschaft miteinander pflegen. Darum werden auch Bestimmungen des kirchlichen Gesetzbuchs auf sie angewendet, in denen nicht ausdrücklich von ihnen die Rede ist: Wer hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharrt, darf nicht zur heiligen Kommunion (c. 915) und zur Krankensalbung (c. 1007) zugelassen werden.

Dabei handelt es sich nicht um eine kirchliche Strafe, sondern um eine theologische Konsequenz aus dem Verharren in schwerer Sünde. Daran kann auch kein Papst etwas ändern. Schwere Sünde ist Trennung von Gott. Wer aber in der Trennung von Gott verharrt, kann nicht gleichzeitig im Sakrament der Eucharistie Gemeinschaft mit Gott erlangen. Wer in schwerer Sünde kommuniziert, wird nicht zu seinem Heil mit Christus vereinigt, sondern zieht sich das Gericht zu (1 Kor 11,27-29). Schwere Sünde verjährt auch nicht und hört nicht auf, schwere Sünde zu sein, wenn nur lang genug daran festgehalten wird.

Daß heute dafür weithin das Verständnis fehlt, hängt damit zusammen, daß in der öffentlichen Meinung weithin das Sündenbewußtsein geschwunden und das Eucharistieverständnis verderbt ist. Die Eucharistie ist nicht ein bloßes Symbol für ein menschliches Bedürfnis, gemeinsam zu essen und zu trinken. Es geht nicht nur um "Tischgemeinschaft mit Jesus", von der auch "Zöllner und Sünder" nicht ausgeschlossen sind (vgl. Mt 9,10-13; 11,19; Mk 2,15-17; Lk 15,1 f.; 5,29-32; 7,34; 19,6 f.). Demgegenüber ist auch heute daran festzuhalten, daß es Sünde gibt und Ehebruch schwere Sünde ist und daß im Sakrament der Eucharistie wirklich Christus gegenwärtig ist und empfangen wird. Es ist daher nach wie vor richtig: Wer in schwerer Sünde verharrt, kann nicht zum Empfang der Sakramente zugelassen werden.

Die entscheidende Frage ist daher: Leben wirklich die Geschiedenen, die wieder geheiratet haben, ständig in schwerer Sünde? Die Annahme der herkömmlichen Lehre, daß alle Geschiedenen, die wieder geheiratet haben, ständig in der schweren Sünde des Ehebruchs leben, ergibt sich als zwangsläufige Folge aus dem traditionellen kirchlichen Eheverständnis.

Das traditionelle kirchliche Eheverständnis

Schon im 4. Jahrhundert hat die Kirche aus dem Recht des heidnischen römischen Staates den Grundsatz übernommen "Consensus facit nuptias" (Der Konsens, die Willenseinigung der Partner macht die Ehe). Dieser Grundsatz kam der kirchlichen Eheauffassung insofern entgegen, als die Kirche von Anfang an betonte, daß für das Zustandekommen einer Ehe die Willenszustimmung beider Partner, nicht nur des Mannes, sondern auch der Frau, erforderlich ist. Da die Willenseinigung der Partner zugleich das bestimmende Element des Vertrags ist, wurde auch die Ehe wie ein Vertrag behandelt und schließlich völlig mit dem Vertrag identifiziert. Andere Dimensionen der Ehe wurden dahinter verdrängt.

Seit im 12. Jahrhundert die Ehe den Sakramenten der Kirche zugezählt wurde, haben Theologen seit Petrus Lombardus (1095-1160) die theologische Lehre über die Ehe aus den rechtlichen Bestimmungen der Kirche über die Ehe entwickelt und gelehrt, daß die Ehe ein Vertrag sei. Auch das kirchliche Lehramt hat seit dem 17. Jahrhundert in der Auseinandersetzung mit anderen Eheauffassungen den Vertragscharakter der Ehe betont. So wurde bis hin zum Zweiten Vatikanischen Konzil in theologischen Lehrbüchern als sichere theologische Lehre vertreten, daß die Ehe ihrem Wesen nach ein Vertrag ist.

Um ermessen zu können, was diese traditionelle kirchliche Ehelehre besagt, muß man sich klar vor Augen halten, was ein Vertrag ist. Vertrag ist eine ausschließlich rechtliche Kategorie. Durch ein Rechtsgeschäft, nämlich durch Willenseinigung der Partner, wird zwischen diesen ein Rechtsverhältnis begründet, das in bestimmten Rechten und Pflichten besteht und der Erreichung eines bestimmten Zwecks dient.

Nach diesem Konzept hat das kirchliche Gesetzbuch von 1917 die Ehe als Vertrag dargestellt (c. 1012). Sie kommt dadurch zustande, daß zwei rechtlich dazu fähige Personen rechtmäßig ihren Konsens erklären, der in dem Willensakt besteht, durch den jeder Partner das lebenslange und ausschließliche Recht auf den Körper zur geschlechtlichen Vereinigung zum Zweck der Zeugung von Nachkommenschaft dem anderen überträgt und von diesem empfängt (c. 1081). Dadurch wird zwischen den Gatten ein seiner Natur nach lebenslanges und ausschließliches Band bewirkt (c. 1110). Auf Grund dieses Rechtsverhältnisses hat jeder Gatte gleiches Recht und gleiche Pflicht zur geschlechtlichen Vereinigung (c. 1111).

Nach diesem traditionellen Eheverständnis besteht die Ehe ihrem Wesen nach in einem abstrakten Rechtsverhältnis zwischen den Ehepartnern. Der Inhalt dieses Rechtsverhältnisses besteht ausschließlich in dem lebenslangen gegenseitigen Recht zur geschlechtlichen Vereinigung zum Zweck der Zeugung von Nachkommenschaft. Dieses Recht ist ausschließlich auf diese beiden Partner beschränkt, so daß lebenslang jede geschlechtliche Vereinigung mit einem anderen Partner ausgeschlossen bleibt. Dieses abstrakte Rechtsverhältnis besteht unabhängig davon, ob zwischen den Partnern eine personale Beziehung besteht oder nicht. Auch wenn die Partner sich auseinanderleben, sich trennen und keinerlei personale Beziehung zwischen ihnen mehr besteht, bleibt dieses abstrakte Rechtsverhältnis zwischen ihnen als wesentlicher Inhalt der Ehe bestehen, solange beide Partner leben.

Aus diesem traditionellen kirchlichen Eheverständnis, aus dem die personale Dimension völlig ausgeklammert war und das seit Jahrhunderten bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil das Feld beherrschte, ergibt sich als zwangsläufige Konsequenz die herkömmliche Lehre und Praxis hinsichtlich der Geschiedenen und Wiederverheirateten:

1. Wenn eine Ehe geschieden wird, haben die geschiedenen Gatten auf Grund des fortbestehenden vertraglichen Rechtsverhältnisses weiterhin das Recht zur geschlechtlichen Vereinigung, weil sie sich dieses Recht gegenseitig auf Lebenszeit übertragen haben. Da ein Recht nicht unbedingt ausgeübt werden muß, liegt auch keine Pflichtverletzung vor, wenn das Recht in beiderseitigem Einvernehmen nicht mehr ausgeübt wird. Daher sind die Geschiedenen auch nicht vom Empfang von Sakramenten ausgeschlossen, solange sie nicht wieder heiraten.

2. Da das Recht zur geschlechtlichen Vereinigung bei der Eheschließung von beiden Partnern gegenseitig unter Ausschluß eines jeden Dritten auf Lebenszeit übertragen wurde, kann dieses Recht, solange beide Partner der geschiedenen Ehe leben, von keinem einem anderen Partner übertragen werden, auch nicht durch eine neue Eheschließung. Wer daher als Geschiedener eine neue Ehe mit einem anderen Partner eingeht und mit diesem Geschlechtsgemeinschaft pflegt, bricht dadurch die als abstraktes Rechtsverhältnis weiterbestehende frühere Ehe. Ehebruch aber ist schwere Sünde, schließt daher von den Sakramenten aus, solange er nicht, verbunden mit der Absicht, davon abzulassen, bereut wird.

3. Da die schwere Sünde des Ehebruchs, wie die Ehe selbst, ausschließlich in der Geschlechtsgemeinschaft besteht, steht der Zulassung zu den Sakramenten nichts im Weg, wenn die Partner der neuen Ehe auf die geschlechtliche Vereinigung verzichten, auch wenn sie weiterhin in personaler Gemeinschaft zusammenleben.

Die herkömmliche Lehre und Praxis bezüglich der Geschiedenen und der Wiederverheirateten ist also nicht eine willkürliche Festlegung, sondern eine zwangsläufige Folge aus dem traditionellen kirchlichen Eheverständnis. Die herkömmliche Lehre und Praxis ist daher nur zu ändern, wenn das traditionelle Eheverständnis überwunden ist. Gerade dies aber ist durch das Zweite Vatikanische Konzil geschehen.

Das erneuerte Eheverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils

Das Zweite Vatikanische Konzil hat nicht ein neues Eheverständnis erfunden, sondern das biblische Eheverständnis erneuert. Der Prozeß dieser Erneuerung hat nicht erst auf dem Konzil eingesetzt; aber erst in der Konzilsdiskussion ist der Durchbruch gelungen.

Schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben einige Theologen, besonders Johann Michael Sailer (1751-1802) und Johann Baptist Hirscher (1788-1865), unter dem Einfluß der Romantik neue Akzente gesetzt und die personale Sicht der Ehe als Liebes- und Lebensgemeinschaft von Mann und Frau ms Blickfeld gerückt. Doch die Theologie der Neuscholastik von der Mitte des 19. Jahrhunderts an hat die traditionelle Sicht der Ehe zu neuer Geltung gebracht2. Ein zweiter Anlauf setzte in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ein. Als Wesen der Ehe wurde die volle Lebensgemeinschaft von Mann und Frau gesehen und der Geschlechtsakt lediglich als Ausdruck ehelicher Verbundenheit in totaler Selbsthingabe verstanden. Während diese neuen Gedanken bei Seelsorgern und christlichen Eheleuten positive Aufnahme fanden, wurden sie in der theologischen Fachdiskussion zum größten Teil abgelehnt. Das Heilige Offizium als oberste Glaubensbehörde ist in einem Dekret vom 1. April 1944 den neuen Anstößen entgegengetreten und hat die bleibende Gültigkeit der traditionellen Ehelehre nach dem Vertragsmodell betont. Die lehramtliche Position hat auch Papst Pius XI. in seiner Eheenzyklika "Casti Connubii" vom 31. Dezember 1930 sachlich unverändert festgehalten, wenn auch in der sprachlichen Formulierung sich die neuen Gedanken niedergeschlagen haben. Noch zehn Jahre vor Beginn des Zweiten Vatikanischen Konzils hat das Heilige Offizium durch Dekret vom 15. Dezember 1952 ein Ehebuch, das sich ausdrücklich gegen das Vertragsmodell ausgesprochen hat3, auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Ein Lehrbuch der Dogmatik, das im Jahr des Beginns des Zweiten Vatikanischen Konzils erschienen ist, hat noch als sichere theologische Lehre erklärt, daß die Ehe ihrem Wesen nach ein Vertrag ist, und hat die Ehelehre aus den rechtlichen Bestimmungen des kirchlichen Gesetzbuchs von 1917 entwickelt4.

Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich das Konzil schwergetan hat, das traditionelle Eheverständnis zu überwinden. In mehreren Kommissionen wurden mehrere Entwürfe erarbeitet und wiederholt überarbeitet. Dabei wurde zunehmend der personale Charakter der Ehe herausgearbeitet. Bis in die letzten Konzilstage hinein gab es deswegen heftige Auseinandersetzungen. Vertreter der Minderheit, die am traditionellen Verständnis der Ehe als Vertrag festhalten wollten, wandten sich noch im letzten Moment an den Papst mit dem Vorwurf, das Ehekapitel enthalte Theorien, die vom Heiligen Stuhl verworfen worden seien und in Gegensatz zum kirchlichen Lehramt stünden. Schließlich aber wurde die Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute mit dem erneuerten Eheverständnis5 in der öffentlichen Sitzung am 7. Dezember 1965 zum Abschluß des Konzils mit überwältigender Mehrheit verabschiedet und vom Papst bestätigt.

Das erneuerte Eheverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils unterscheidet sich wesentlich von dem traditionellen kirchlichen Eheverständnis. Nach dem Verständnis des Konzils ist die Ehe nicht ein Rechtsverhältnis zwischen zwei Partnern, das in dem wechselseitigen Recht zur geschlechtlichen Vereinigung besteht, das die Partner sich bei der Eheschließung gegenseitig übertragen. Vielmehr versteht das Konzil die Ehe als personale Lebens- und Liebesgemeinschaft von Mann und Frau, die sich gegenseitig als Person schenken und annehmen und von Gott zu einer neuen Wirklichkeit miteinander verbunden werden, so daß sie nicht mehr zwei, sondern eins sind (Mt 19,6). Das Recht der Ehegatten zur geschlechtlichen Vereinigung ist nach dem Eheverständnis des Konzils nicht ein isoliert für sich bestehendes Recht, sondern ergibt sich aus der personalen Gemeinschaft des Lebens und der Liebe, die in der geschlechtlichen Vereinigung von Mann und Frau ihren Ausdruck und ihre Verwirklichung findet. Das Konzil bezeichnet daher auch die Ehe nicht mehr als Vertrag, sondern als Bund; und darum hat das Konzil auch die aus dem Verständnis der Ehe als Vertrag sich ergebende traditionelle Ehezwecklehre aufgegeben, nach der die Zeugung von Nachkommenschaft Hauptzweck der Ehe ist.

Aus dem erneuerten Eheverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils ergeben sich zwangsläufig andere Konsequenzen als aus dem traditionellen Eheverständnis:

1. Die Ehe kommt nicht allein durch den Konsens der Partner zustande, sondern diese werden auch von Gott zu einer Einheit miteinander verbunden. Von diesen beiden Komponenten kann eine, nämlich der Konsens der Partner, von einem oder von beiden zurückgenommen werden. Dadurch wird die personale Lebens- und Liebesgemeinschaft zwischen ihnen zerstört, was durch die Scheidung bekräftigt wird. Wenn aber zwischen geschiedenen Gatten keine personale Verbindung mehr besteht, haben sie auch nicht mehr das Recht zur geschlechtlichen Vereinigung, die ja Ausdruck der personalen Einheit ist.

2. Die andere Komponente für das Zustandekommen der Ehe, die Verbindung durch Gott, kann nicht rückgängig gemacht werden; denn was Gott tut, das ist ein für allemal getan (vgl. Rom 11, 29). Darum steht es geschiedenen Gatten nicht frei, nach Belieben eine neue Ehe mit einem anderen Partner einzugehen. Darum ist auch eine kirchliche Trauung Geschiedener, die wieder heiraten, nicht möglich, weil die Mitwirkung eines Organs der Kirche bei der Eheschließung Zeichen für das Handeln Gottes ist.

3. Wenn aber ein Geschiedener vor dem Standesbeamten eine neue Ehe mit einem anderen Partner eingeht, erfolgt auch hier eine gegenseitige personale Selbstübereignung von Mann und Frau, die sich gegenseitig als Person schenken und annehmen. Ihre geschlechtliche Vereinigung ist daher auch Ausdruck einer personalen Lebens- und Liebesgemeinschaft. Sie verletzen damit auch nicht ein Recht des früheren Gatten, da dessen Recht zur geschlechtlichen Vereinigung mit der Zerstörung der personalen Lebens- und Liebesgemeinschaft zu bestehen aufgehört hat. Nach dem erneuerten Eheverständnis des Konzils ist also die geschlechtliche Vereinigung Geschiedener, die wieder geheiratet haben, anders zu beurteilen als außereheliche, ehebrecherische Geschlechtsbeziehungen.

Erst jetzt, mit diesen neuen Erkenntnissen, können wir die eingangs gestellte entscheidende Frage beantworten.

Leben die Geschiedenen, die wieder geheiratet haben, ständig in schwerer Sünde?

Schwere Sünde ist ein Verstoß gegen Gottes Gebot. Jesus sagt: Wer nach der Scheidung wieder heiratet, begeht Ehebruch (Lk 16,18; Mk 10,11 f.; Mt 5,32; 19,9). Jesus sagt aber auch: "Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen" (Mk 10,2-9; Mt 19,3-8). Also ist nicht nur die Wiederheirat, sondern auch bereits die Scheidung ein Verstoß gegen Gottes Gebot. Ob der Verstoß gegen Gottes Gebot den Betroffenen als schwere Sünde anzurechnen ist, ist für die Scheidung und für die Wiederheirat nach der Scheidung nicht nach unterschiedlichen, sondern nach denselben Grundsätzen zu entscheiden, nach Grundsätzen, die allgemein für die Beurteilung sittlichen Verhaltens gelten.

Als schwer gilt jene Sünde, "die eine schwerwiegende Materie zum Gegenstand hat und die dazu mit vollem Bewußtsein und bedachter Zustimmung begangen wird"6. Es kommt also nicht allein auf den objektiven Tatbestand der Scheidung und der Wiederheirat, sondern auch auf die persönliche Schuldhaftigkeit an.

Hinsichtlich der Ehescheidung erkennt Papst Johannes Paul II. ausdrücklich an, daß die Scheidung nicht notwendig jedem geschiedenen Gatten als schwere Sünde anzurechnen ist7. Eine sach- und personengerechte Beurteilung kann jeweils nur im konkreten Fall erfolgen. Wenn ein Ehegatte die personale Lebens- und Liebesgemeinschaft seiner Ehe in schwer sündhafter Weise zerstört hat und auch weiterhin in dieser seiner sündhaften Haltung verharrt, kann er selbstverständlich nicht im Sakrament der Buße mit Gott versöhnt und auch nicht im Sakrament der Eucharistie mit Christus vereint werden, solange er seine Sünde nicht ernsthaft bereut. Aber auch ein Ehegatte, dem die Zerstörung seiner Ehe als schwere Sünde anzurechnen ist, kann sich in echter Reue von dieser Sünde abwenden. Dies ist selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn die zerstörte Lebens- und Liebesgemeinschaft nicht wiederhergestellt wird, weil dies unter den jetzt gegebenen Umständen nicht mehr erreichbar ist. Dann steht dem Empfang von Sakramenten ebensowenig entgegen wie bei einem anderen, dem die Zerstörung der personalen Einheit der Ehe von vornherein nicht als schwere Sünde anzurechnen ist.

In der Praxis wird man davon ausgehen können, daß jeder Geschiedene, der nicht wieder geheiratet hat, Sakramente empfangen kann, sofern er dies aus religiösen Motiven begehrt und sich um ein christliches Leben bemüht8. Selbst wenn jemand schwere sittliche Schuld auf sich geladen hat, wird das Verlangen nach dem Empfang von Sakramenten in der Regel ein Zeichen ernsthafter Reue über die Sünde sein.

Nach denselben Grundsätzen wie die Scheidung ist auch die Wiederheirat eines Geschiedenen zu beurteilen. Das heißt: Es kommt jeweils auf den konkreten Einzelfall an. In jedem Fall ist die Wiederheirat eines Geschiedenen genauso wie die Scheidung ein objektiver Verstoß gegen Gottes Gebot. Die neue Ehe ist daher objektiv ungültig. Damit ist aber noch nichts darüber ausgesagt, ob die Wiederheirat dem Geschiedenen auch als schwere Sünde anzurechnen ist.

Nicht in jedem Fall ist ein Geschiedener, der wieder heiratet, von schwerer Sünde freizusprechen. Solange er in dieser Sünde verharrt, kann er nicht im Sakrament der Buße mit Gott versöhnt und auch nicht im Sakrament der Eucharistie mit Christus vereint werden. Aber auch ein Geschiedener, der durch die Wiederheirat schwer gesündigt hat, kann seine Sünde später ernsthaft bereuen und nach gewissenhafter Selbstprüfung zu der Überzeugung kommen, daß er unter den jetzt gegebenen Umständen die neue Ehe fortsetzen darf.

Wie bei der Scheidung kann es aber auch bei der Wiederheirat sein, daß sie von vornherein nicht als schwere Sünde anzurechnen ist. Auch der Papst fordert ausdrücklich dazu auf, "die verschiedenen Situationen gut zu unterscheiden"9. Als

Beispiel führt er an, daß ein Geschiedener sich wegen der Erziehung von Kindern zu einer Wiederheirat entschließt. Wenn daher ein Geschiedener in einer solchen Situation nach gewissenhafter Selbstprüfung zu der Überzeugung kommt, um der Erziehung der Kinder willen eine neue Ehe eingehen zu sollen, wird dadurch zwar die rechtliche Ungültigkeit der neuen Ehe nicht behoben, aber je nach den besonderen Umständen die sittliche Schuld gemindert oder auch ganz ausgeschlossen.

Wie bei der Ehescheidung bzw. der Fortsetzung des Lebens in der Scheidung wird man auch bei der Wiederheirat bzw. der Fortsetzung der ungültigen Ehe annehmen können, daß sie in der Regel dann nicht als schwere Sünde anzurechnen ist, wenn die Betroffenen sich überhaupt ernsthaft um ein christliches Leben bemühen und ihre Entscheidung auf Grund einer ernsthaften Gewissensprüfung gefällt haben. Auch soweit die Wiederheirat als schwere Sünde anzurechnen ist, wird man in der Regel das spätere Verlangen nach dem Empfang von Sakramenten als Zeichen echter Reue ansehen können, sofern der Empfang aus religiösen Motiven begehrt wird.

Soweit die Wiederheirat eines Geschiedenen bzw. die Fortsetzung der objektiv ungültigen Ehe den Betroffenen nicht als schwere Sünde anzurechnen ist, ist ihnen auch die geschlechtliche Vereinigung als Ausdruck ihrer personalen Lebens- und Liebesgemeinschaft nicht als schwere Sünde anzurechnen. Denn trotz rechtlicher Ungültigkeit ihrer Ehe haben sie sich gegenseitig als Person geschenkt und angenommen und damit zu einer personalen Lebens- und Liebesgemeinschaft verbunden. Sie verletzen auch nicht ein Recht des früheren Gatten, da dessen Recht zur geschlechtlichen Vereinigung mit der Zerstörung der personalen Lebens- und Liebesgemeinschaft zu bestehen aufgehört hat.

Kriterien für die Würdigung des Einzelfalls

Im Leben eines jeden Christen sind viele Entscheidungen zu treffen. Dies gilt nicht nur für besondere "Wendepunkte" im Leben, sondern auch für das alltägliche Leben. Jede dieser Entscheidungen setzt eine Gewissensprüfung voraus, die jeder einzelne selbst treffen muß. Allenfalls kann er sich dabei beraten lassen; aber niemand kann ihm die Entscheidung abnehmen. So hat jeder nach gewissenhafter Selbstprüfung zu entscheiden, ob er bei der Mitfeier der heiligen Messe die Eucharistie empfangen darf oder ob er sich einer schweren Sünde bewußt ist, die ihn vom Empfang abhält. Ebenso hat jeder nach Erforschung seines Gewissens selbst zu entscheiden, ob, wann und wie oft er das Sakrament der Buße zu empfangen hat und welcher Sünden er sich dabei anzuklagen hat. Besonders wichtig ist die Entscheidung für ein eheloses oder ein eheliches Leben, die Entscheidung für einen bestimmten Ehepartner und die Entscheidung für die Zahl und die Zeit der Zeugung von Kindern. Sich vor solchen Entscheidungen beraten zu lassen, ist nicht

ungewöhnlich. Dies gilt besonders auch für die Entscheidung, seinen Ehepartner zu verlassen oder in die Scheidung einzuwilligen, und für die Entscheidung, nach der Scheidung ein eheloses Leben zu führen oder wieder zu heiraten. Die Entscheidung hat schließlich auch nach Beratung jeder für sich selbst zu treffen.

Wenn es um die Entscheidung für eine Wiederheirat nach der Scheidung bzw. für die Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten geht, ist es hilfreich, folgende Fragen zu stellen und gewissenhaft zu prüfen:

1. Ist die Wiederherstellung der gescheiterten Ehegemeinschaft völlig unmöglich? Es gibt Fälle, daß geschiedene Ehegatten wieder zusammenfinden. In diesem Fall ist eine neue Eheschließung vor dem Standesbeamten erforderlich. Einer Wiederholung der kirchlichen Trauung bedarf es nicht, da die Scheidung die Verbindung durch Gott nicht aufgelöst hat.

2. Bestehen Anhaltspunkte dafür, daß die gescheiterte Ehe ungültig ist? Oder kann sie als nichtsakramentale oder nichtvollzogene Ehe nach geltendem kirchlichen Recht aufgelöst werden? In diesen Fällen sind die dafür vorgezeichneten Wege zu gehen.

3. Werden bestehende Verpflichtungen gegenüber dem früheren Partner und/ oder gegenüber Kindern erfüllt?

4. Wird eventuelle Schuld an der Zerstörung der ehelichen Gemeinschaft eingestanden und ernsthaft bereut?

5. Gibt es Gründe, die eine Wiederheirat nahelegen? Es kann sein, daß die Wiederheirat von vornherein nicht als schwere Sünde anzurechnen ist, weil entsprechende Schuldminderungs- oder Schuldausschließungsgründe vorliegen, zum Beispiel Erziehung von Kindern.

6. Besteht die Bereitschaft zu einem christlichen Leben und entsprechender Erziehung von Kindern?

7. Wird eine eventuell unbedachte und schuldhafte Entscheidung für die Wiederheirat ernsthaft bereut, wenn die neue Verbindung zunächst leichtfertig eingegangen wurde?

8. Ist das Verlangen nach dem Empfang von Sakramenten religiös motiviert? Die Praxis neigt gewiß zu Schematisierung und Vereinfachung. Dieser Gefahr ist gerade auch die herkömmliche Lehre und Praxis erlegen, indem sie ohne Prüfung der Schuldfrage alle wiederverheirateten Geschiedenen nicht zum Empfang von Sakramenten zuläßt. Umgekehrt dagegen ist diese Gefahr viel geringer; denn wer wirklich in schwerer Sünde lebt und hartnäckig darin verharrt, wird kaum das Verlangen nach dem Empfang von Sakramenten haben.

Wer auf Grund gewissenhafter Selbstprüfung anhand dieser Fragen zu der Überzeugung kommt, unter den gegebenen persönlichen Umständen als Geschiedener eine neue Ehe mit einem anderen Partner eingehen oder eine bereits eingegangene Ehe fortsetzen zu dürfen, ist auch nach der Wiederheirat nicht am Empfang von Sakramenten gehindert.

Ergebnis

Nach wie vor gilt, daß Geschiedene, die wieder geheiratet haben, dann nicht zum Empfang von Sakramenten zugelassen werden dürfen, wenn sie hartnäckig in einer offenkundigen schweren Sünde verharren. Dies gilt nicht nur für Geschiedene, die wieder geheiratet haben, sondern auch für alle anderen. Ob aber Geschiedene, die wieder geheiratet haben, in schwerer Sünde leben, ist nicht generell, sondern nur im konkreten Einzelfall zu entscheiden. Dafür ist entscheidend, welches Eheverständnis zugrunde gelegt wird.

Daß die herkömmliche kirchliche Lehre und Praxis alle Geschiedenen, die wieder geheiratet haben, als ständig in der schweren Sünde des Ehebruchs lebend betrachtet, solange sie Geschlechtsgemeinschaft miteinander pflegen, ist eine zwangsläufige Konsequenz aus dem traditionellen kirchlichen Eheverständnis, das aus dem Recht des heidnischen römischen Staates abgeleitet ist und die Ehe ausschließlich als vertragliches Rechtsverhältnis versteht, das in dem lebenslangen und jeden Dritten ausschließenden Recht der Gatten zur geschlechtlichen Vereinigung zum Zweck der Zeugung von Nachkommenschaft besteht.

Dieses traditionelle Eheverständnis aber hat das Zweite Vatikanische Konzil, als ökumenisches Konzil höchste Autorität der Kirche, überwunden und durch ein erneuertes Eheverständnis ersetzt, das sich auf die göttliche Offenbarung stützt. Dabei ist davon auszugehen, daß auf dem Konzil auch der Heilige Geist am Werk war, der die Kirche nach und nach in die ganze Wahrheit einführt (Joh 16,13). Nach dem erneuerten Eheverständnis des Konzils ist die Ehe nicht ein Rechtsverhältnis zwischen zwei Vertragspartnern, sondern personale Lebens- und Liebesgemeinschaft, zu der Mann und Frau, die sich als Person gegenseitig schenken und annehmen, von Gott so miteinander verbunden werden, daß sie nicht mehr zwei, sondern eins sind. Das Recht zur geschlechtlichen Vereinigung ist nach diesem Eheverständnis nicht der wesentliche Inhalt der Ehe, sondern ergibt sich aus der personalen Lebens- und Liebesgemeinschaft, weil diese in der geschlechtlichen Vereinigung ihren Ausdruck und ihre Verwirklichung findet. Das Recht zur geschlechtlichen Vereinigung erlischt daher mit der Zerstörung der personalen Lebens- und Liebesgemeinschaft. Andererseits ist die geschlechtliche Vereinigung auch in der neuen Ehe eines Geschiedenen Ausdruck personaler Lebens- und Liebesgemeinschaft, da auch in dieser Ehe die Gatten sich gegenseitig als Person schenken und annehmen. Durch ihre geschlechtliche Vereinigung wird daher nicht ein vertragliches Recht des früheren Partners verletzt.

Für die Zulassung zum Empfang von Sakramenten gilt daher für Geschiedene und für Wiederverheiratete in gleicher Weise: Nicht zugelassen werden dürfen nur jene, denen die Zerstörung und Scheidung der Ehe als schwere Sünde anzurechnen ist und die hartnäckig in dieser sündhaften Haltung verharren, und ebenso jene, denen die Wiederheirat als schwere Sünde anzurechnen ist und die hartnäckig in dieser sündhaften Haltung verharren. Wem dagegen die Scheidung bzw. die Wiederheirat nach der Scheidung nicht als schwere Sünde anzurechnen ist, der kann auch nach der Scheidung und nach der Wiederheirat mit einem anderen Partner im Frieden mit der Kirche leben und auch am sakramentalen Leben der Kirche teilnehmen. Dazu bedarf es nicht einer Änderung des geltenden kirchlichen Rechts, sondern nur der Befolgung desselben.

Voraussetzung dafür ist allerdings die längst überfällige Rezeption des Eheverständnisses des Zweiten Vatikanischen Konzils. Aber auch heute gilt noch, was der jetzige Bischof von Rottenburg-Stuttgart im Jahr 1977 beklagt hat, daß nämlich der bedeutsame Wandel, den das Eheverständnis auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil erfahren hat, noch viel zuwenig Beachtung gefunden hat10. In das neue kirchliche Gesetzbuch von 1983 ist zwar das Eheverständnis des Konzils aufgenommen worden. Daneben ist aber auch das traditionelle Eheverständnis stehengeblieben11. Damit wird unterstellt, das Eheverständnis des Konzils unterscheide sich nicht wesentlich von dem traditionellen Eheverständnis12. Darauf aber kann sich seit der sorgfältigen Untersuchung von Norbert Lüdecke13 niemand mehr gutgläubig berufen. Solange aber das erneuerte Eheverständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht allgemein rezipiert ist, ist auch die herkömmliche Lehre und Praxis hinsichtlich der wiederverheirateten Geschiedenen nicht aus den Angeln zu heben, da diese sich als zwangsläufige Konsequenz aus dem traditionellen kirchlichen Eheverständnis ergibt. Es ist daher nichts dringlicher als die Rezeption des Eheverständnisses des Konzils.

Stimmen der Zeit (1993) 741-751

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