Gott ist jung! Kirche auch?Trends und Projekte in jugendpastoraler Theorie und Praxis

Die Jugendpastoral stellt eine große Herausforderung in der gegenwärtigen kirchlichen und gesellschaftlichen Situation dar. Matthias Sellmann, Juniorprofessor für Pastoraltheologie an der Ruhr-Universität Bochum, analysiert aktuelle Trends und Entwicklungen in Theorie und Praxis und stellt einige neue Projekte vor.

Seit jeher gehört das Unternehmen Jugendpastoral zu den herausforderndsten Kommunikationssituationen des Glaubens. Schon immer war es für die Älteren prekär, ihre Einsichten über das Leben, die Werte und den Glauben an die weiterzugeben, die ihnen als Jüngere gegenüberstehen. Das weiß jeder Großvater, jedes Elternpaar und jede Lehrerin. Junge Leute sehen das Leben oft ganz anders als die ihnen Vorhergehenden - und das ist ja insofern auch ihr gutes Recht, als sie mit diesem Leben rein quantitativ mehr zu tun haben werden als die Älteren. Was in ihrer Lebenszeit Sinn sein soll, was tragend sein soll, was selber wieder weitergebungswürdig sein soll - das entscheiden sie nach eigener Prüfung.

Darum war Jugendpastoral immer prekär. Die Riskanz und die weitgehende Ergebnisoffenheit dieses kommunikativen Prozesses sind aber in unserer Gegenwart noch einmal enorm gestiegen. Der Handlungsort Jugendpastoral bietet wie wenig andere eine Miniatur des sich gesellschaftlich vollziehenden Umbruchs einer volkskirchlichen Gesamtsituation hin zu einer neuen Form. Dieser wird von manchen Autoren als epochaler Einschnitt beschrieben, als Zäsur der Kirchengeschichte mit Verlusten, aber auch mit Chancen1. Wir sind heute Zeugen, wie die Kirche einen Ortswechsel vorzunehmen hat. Noch vor zehn, 20 Jahren hatte die Kirche gesellschaftlich durchaus wirksame Macht - sei es Definitionsmacht über Ethik, Moral und Sitte, sei es Regelungsmacht über ihre Mitglieder, Steuerungsmacht über gesellschaftliche Prozesse oder Anbietermacht auf den Feldern der Ethik, des Wohlfahrtsstaates und des Bildungssystems.

Diese Macht erodiert heute. Kirche kann immer weniger mitbestimmen, wie sie von außen gesehen wird. Im Sinn des Evangeliums kann man durchaus sagen: Sie wird ärmer und ohnmächtiger. Sie muß sich zunehmend fremden Logiken beugen - so zum Beispiel der 90-Sekundenlogik des Mediensystems, der Ganztagslogik der weiterführenden Schule, der Kennzifferlogik heutiger Sozialarbeit oder der Liberalitätslogik des modernen Verfassungsstaates. Die Kirche ist heute auf einen Markt geworfen. Andere schaffen jetzt die Situationen, in denen sie sich bewähren muß.

Man muß diese Entwicklung nicht prinzipiell beklagen. Ja, man darf sogar davon ausgehen, daß die Glaubwürdigkeit religiöser Kommunikation steigt, wenn sie nicht dauernd unter dem Verdacht steht, auch noch jede Menge sekundärer Nebeninteressen abzugreifen. Eine arme Kirche ist sicher oft authentischer. Und die Kirche als Gemeinschaft des Volkes Gottes ist ja auch dogmatisch hervorragend auf diese Situation vorbereitet, aktiviert sie doch erst unter Säkularisierungsbedingungen das großartige zweipolige ekklesiologische Programm von "Lumen Gentium" und "Gaudium et spes" sowie die nicht minder beeindruckende Vision einer Offenbarung als Kommunikation von "Dei verbum"2. Aber natürlich kosten die Anpassungsanstrengungen enorme Energien. Sowohl die theologischen als auch die pastoralstrukturellen Turbulenzen unserer Tage könnten präzise als Reaktionsreflexe einer Institution gedeutet werden, die von einer Monopol- in eine Konkurrenzstellung auf einem Markt zu wechseln hat.

Jugendpastoral heute - Begegnung mit Fremden

Heutige Jugendpastoral kann gemäß dieser Skizze als ein solcher Ort beschrieben werden, an dem die Kirche in fremde Welten und an fremde Lebensideen gelangt - und dies in für viele unzumutbarer Härte. Jugend ist in vielfacher Hinsicht das "Außen" der verfaßten Kirche, über das sie nicht verfügen kann. Und das ist ihr "plötzlich sehr unheimlich"3. Dies gilt soziologisch wie auch theologisch. In soziologischer Hinsicht ist es nach wie vor die Bevölkerungsgruppe der Zwölf- bis 29jährigen, die sich im weitaus größten Abstand zur Kirche verortet. Kein anderes Bevölkerungssegment geht so selten zum Gottesdienst, verweigert so konsequent den Glaubens- und den Moralgehorsam und stilisiert sich biographisch so kirchenoppositionell wie die Jüngeren. Insgesamt kann man arbeitshypothetisch davon ausgehen, daß die Angebote der pfarrlichen bzw. der verbandlichen Jugendpastoral etwa sechs Prozent der 16- bis 29jährigen erreichen4. Insofern werden die Jüngeren für die Kirche zu "Fremden" - und damit zu unverzichtbaren Informanten über ein Leben jenseits verfaßter kirchlicher Rituale und Routinen.

In theologischer Hinsicht bilden die Jüngeren die Generation, die die Geschichtlichkeit des christlichen Glaubens nach vorne hin verbürgt - und die damit im Modus von Fremdheit agiert. Da die traditio des Glaubens für diesen konstitutiv ist, diskreditiert sich jede Kirche selbst, wenn sie den Strom der successio, der Glaubensweitergabe, unterbrechen läßt und sich mehr von der (gesicherten) Überlieferung der Alten als von der (verunsichernden) Überraschung der Jungen bestimmen läßt. Insofern gilt in der Jugendpastoral gerade aus der Erkenntnis dessen, was als "Altes" zu bewahren ist, ein "Vorrang des Neuen"5.

Aktuelle Projekte und Initiativen der Jugendpastoral

Neues ist nur deswegen neu, weil es auf Bewährtem und Gewohntem aufsattelt. Darum muß eine Darstellung von jugendpastoralen Innovationen zunächst auf die große Breite jener Jugendarbeit hinweisen, die eher konventionell und unspektakulär einfach Räume für junge Leute bereithält, in denen diese sich treffen, austauschen und zusammen leben können. Die Meßdienerjugend, die Pfarrjugend, die Jugendgruppen der Orden, Bewegungen und Verbände knüpfen ein dichtes Netz von Gruppen, Treffs und Angeboten, auf das nach wie vor sehr viele junge Leute gern Zugreifen6. Oft ist die Kirche, vor allem auf dem Land, die einzige Institution, die jungen Leuten Freizeitangebote macht und damit - noch vor jeder inhaltlichen Ansprache - dokumentiert, wie wichtig ihr die Begegnung mit jungen Leuten ist.

Auf den Schultern dieser Infrastruktur und dieser Flächenpräsenz stehen einige innovative Projekte mit besonderer Signalkraft. Wie stellt sich dieses "Neue" praktisch dar? Was wird in der gegenwärtigen Jugendpastoral ausprobiert? Welche Erfahrungen macht man an diesem ausgesetzten Ort, die auch für andere Kirchenorte wertvolle Einsichten bieten könnten? Dazu sollen einige aktuelle Projekte und Initiativen angeführt werden. Dabei werden die beiden innovativsten Entwicklungen nicht benannt: Die "Jugendkirchen" werden ausgespart, weil dazu gerade in letzter Zeit mannigfache Publikationen vorgelegt wurden, die ihren enormen Innovationscharakter Herausarbeiten7, und die "Theorie der Selbstsozialisation", die die jungen Leute heute als sich selbst sozialisierende Akteure versteht, bleibt aus Platzgründen unerwähnt8. Die folgenden Projektskizzen erheben keinerlei Vollständigkeitsanspruch, sondern wollen an willkürlich ausgewählten Projekten das Neue im Suchprozeß gegenwärtiger Jugendpastoral herausarbeiten. Der Übersicht halber werden die vorgestellten Projekte entsprechend den kirchlichen Grundvollzügen systematisiert9.

Verkündigung oder: Was vernetzt?

Oft ist es der Mediengebrauch, der die Jungen von den Alten unterscheidet. Medien begründen Wirklichkeitszugänge, und die sind bei Jüngeren oft andere als bei Älteren. So ist das auch in der Jugendpastoral: Vieles spielt sich in den sogenannten Neuen Medien ab - und viel von dem hier Ausprobierten ist für die Älteren schlichtweg nicht existent, weil sie nicht "on" sind. Die neuere Jugendsoziologie arbeitet deutlich heraus, daß das Bedürfnis nach "Konnektivität" zu den Hauptbedürfnissen heutigen jungen Lebens gehört10. Mit dem Begriff ist ein Zustand der medialen und über diese der sozialen Vernetzung gemeint. Das Adreßbuch des Handys, die Freunde auf Facebook oder studiVZ und/oder die Frequenzen der verschiedenen Messenger-Systeme wie icq werden zu Gradmessern für die soziale Eingebundenheit. Die neuen Verben jugendlicher Selbstverifikation und Sozialpräsentation lauten: mailen, doodlen, simsen, twittern, cross-posten, podcasten, chatten, bloggen, taggen, tuben usw.

Für die Glaubenskommunikation von und mit jungen Leuten eröffnen die Neuen Medien ganz neue Möglichkeiten. Die mediale Kommunikation kann die personale Kommunikation nicht nur enorm ergänzen - was in Zeiten des Rückbaus von bezahlbarer Hauptamtlichkeit ja eigentlich jeden Verantwortungsträger aufhorchen lassen müßte; die forcierte mediale Kommunikation bereichert auch die Verkündigungs- und Zeugnisdimension des Christseins auf ganz neue Weise. Denn Medien verpacken nicht einfach nur bereits vorhandene Botschaften neu, sondern formatieren sie sowohl inhaltlich als auch sozialkommunikativ. So wie eine Predigt für den Rundfunk anders gehalten werden muß als für ein präsentes Publikum, kann auch ein spiritueller Text nicht einfach wahlweise gebloggt, getwittert oder per kollektiver SMS kommuniziert werden. "Medium is message" (Marshall McLuhan): Der jeweilige Kommunikationskanal entscheidet bereits mit über das Grundverständnis, mit dem die Nachricht rechnen kann.

Wer etwa auf der Homepage des Aachener Hauskirchenprojektes kafarna:um (‹www.kafarnaum.de›) surft, merkt sofort, daß sich hier eine virtuelle mit einer sozialen Gemeinschaft (community) überschneidet. Neben einer (übrigens ebenfalls innovativen) Aktionsschiene bietet der Button "Mit Kafarna:um" vielfältige Möglichkeiten des Dabeiseins am Bildschirm. Der Gründer der Hauskirche, der Pastoralreferent Florian Sobetzko, formuliert das auf der Homepage so:

"Zum Beispiel kannst Du kafarna:um auf Twitter folgen, die kafarna:um Fanpage auf Facebook besuchen und Fan werden, Du kannst unseren RSS Stream mit einem RSS-Reader lesen oder unseren Veranstaltungskalender abonnieren. Ziemlich cool ist auch folgendes: Benutzt du elektronische Kalender wie Google Calendar, Thunderbird, Sunbird, Outlook, Apple iCal oder gar ein iPhone? Dann abonniere den neuen Terminkalender von kafarna:um: html, xml, ical. Auf diese Weise brauchst Du Dich um nichts mehr zu kümmern: Wenn wir einen Termin eintragen, erscheint er automatisch in Deiner Agenda."

Damit nicht genug, hat Kafarna:um auch ein Newslettersystem; es trägt einen originellen Namen:

"Das kafarna:um Schweinebauchblättchen: Über unser wundervolles Newslettersystem kannst Du einfach anklicken, welche Themen Dich interessieren, und wir schicken Dir dann von Zeit zu Zeit die passenden News: Willst Du den Gemeindenewsletter? Oder spirituelle Impulse für Deinen Alltag? Bestell Dir die kafarna:um spirits. Willst Du informiert werden, wenn Mitarbeiter und Macher für neue und bewährte Projekte gesucht werden? Wähle kafarna: um volunteers. Willst Du mit uns auf Reisen gehen? Sag uns Bescheid - hier entlang!"

Einen anderen Weg geht die Website ‹www.touch-me-gott.de›. Hierbei handelt es sich um ein Internetprojekt, das 2004 von der Diözesanstelle "Berufe der Kirche" im Bistum Augsburg initiiert und mittlerweile von einem Netzwerk weiterer Diözesen in Deutschland, Österreich und der Schweiz getragen wird. Im Kern geht es um Glaubensimpulse, die in der Advents- und Fastenzeit als Briefe in einer virtuellen Lounge angeboten werden. Jugendliche ab 14 Jahren sollen zu einer intensiveren Gottesbegegnung in den geprägten Zeiten eingeladen werden. Dies geschieht mit ungewöhnlichen Mitteln: Zunächst ist die ganze Ästhetik des Auftritts von einer für Pastoralprojekte erfrischenden Kühle. Die erste Ebene des Auftritts ist als Straße mit drei Orten gestaltet und arbeitet mit einer reduzierten, astronautischen Bildsprache, der eine sphärische Musikfarbe unterlegt ist. Von vornherein werden damit Anmutungen einer aufdringlich fröhlichen oder betulichen Performance verhindert. Die Straße navigiert den Benutzer entweder zum "Blueboard" - einem Nachrichtenbrett -, zum "Internetcafé" oder zur "Soul-Area", einem der Hauptaktionspunkte des Projekts. Geschickt entschleunigt hier das zuständige Designerbüro 11gen den Eintritt in die "Area": Man wählt einen Namen und wird fortan durchgehend so angesprochen; man legt die Jacke ab; man wählt sich seine Musikfarbe in der Lounge; man zündet eine Kerze an, und erst dann gelangt man zum Briefimpuls des Tages. Die Lounge ist als urbaner Designer-Flat in Zeichentrick-Grafik gestaltet, eine chill-out-Area mit Ausblick durch zimmerhohe Verglasung auf verschneite Berge. Neben der Lounge gibt es eine virtuelle Kapelle, die "Praystation", in der man von Gott selbst begrüßt wird, der zum Verweilen, zum Beten, zum Eintrag in ein Fürbittbuch und zum Nachdenken einlädt. Tatsächlich schafft es diese Kapelle, eine Stimmung der Andacht und der Ruhe zu vermitteln. Neu in der Soul-Area ist der "Gospelboden": Man besteigt ihn über eine Leiter und findet hier eine Bibel zum Lesen, mp3-Dateien mit biblischen Texten zum Hören und jede Menge Zeugs zum Stöbern11.

Noch über viele andere Instrumente bietet das Projekt "Touch-me-Gott" eine Drehscheibe für jugendliche Glaubenskommunikation: Gesprächspartner im Chat, e-cards, Treffen der community in Facebook oder auch face-to-face, Downloads von Klingeltönen, eine mutige und jugendgerechte Öffentlichkeitsarbeit. Hinsichtlich der Verkündigungsaufgabe der Kirche sind zwei Aspekte bemerkenswert: Erstens steht die Gottesfrage im Zentrum, weil die Fiktion leitend ist, von Gott selbst angesprochen und berührt zu werden. Zweitens bedeutet der technische Entwicklungsschritt eines web 2.0 offenbar auch einen Entwicklungsschritt hin zu einem "Christsein 2.0". So wie das web 2.0 dadurch gekennzeichnet ist, daß Websurfer über interaktive Benutzeroberflächen selber zu Produzenten von Inhalten werden - in der Fachsprache: "user" generieren "content", indem sie Filme, Fotos, Tagebucheinträge, Selbstprofile usw. ins Netz einstellen - werden sie über Seiten wie ‹touch-me-gott.de› auch inspiriert, selber religiöse Inhalte für andere zu erstellen: über Einträge in Gebetbücher, Kommentare zu Bibeltexten, Anzünden von Kerzen oder Benutzen von pastoralen Chatrooms.

Als ähnliche Projekte solcher "Verkündigung 2.0" können genannt werden: Advents- und Fastenkalender im Internet (z.B. aktuell von Bonifatiuswerk und Erzbistum Paderborn: ‹www.die-zeit-vor-ostern.de›); die Präsenz verschiedener kirchlicher Akteure im "second life" (so das Freiburger Projekt ‹www.kirche-in-virtuellen-welten. de›); das Internetangebot von großen Institutionen (‹www.evangelisch.de/youngspirix›) oder Ordensgemeinschaften wie etwa das Projekt "Domino" der Benediktinerabtei Königsmünster (‹www.domino-community.de›) sowie die twitter-Bibel des Portals ‹www.evangelisch.de›12. Auch der Vatikan zieht da mit: Spiegel online berichtete im Januar 2010 von der Botschaft des Papstes anläßlich des 44. Katholischen Welttags sozialer Kommunikationsmittel, in der er die pastoral Verantwortlichen zur umfassenden Nutzung der Neuen Medien, zu Online-Videos, Blogs und einschlägigen Fortbildungskursen ermutigt13.

Die jugendpastorale Herausforderung, die im Raum steht, ist offensichtlich eine inhaltliche wie auch eine kulturell-mentale. Die Neuen Medien sind jedenfalls mehr als einfach neue Gelegenheitsstrukturen für die Verkündigung. Sie rufen tiefgreifende systematische und philosophische Fragen auf den Plan, etwa nach dem ontologischen Status von Virtualität, dem Subjekt- und Wahrheitsbegriff sowie die soteriologischen Frage nach der grundlegenden Medialität von Gnadenwirkungen14.

Sakramententheologisch wird man beispielsweise eine Debatte über die Frage erwarten dürfen, inwieweit Segenshandlungen der körperlichen Präsenz bedürfen, woran man diese fest macht und unter welchen Bedingungen - ähnlich wie bei Fernsehgottesdiensten oder dem jährlichen Ablaß anläßlich des päpstlichen Segens "Urbi et orbi" - etwa das Beicht- oder Firmsakrament virtuell empfangbar ist. Man hat zu fragen, ob angesichts der enormen Wichtigkeit des Netzes ausgewählte künftige Jugendseelsorger nicht kategorial als Web-Seelsorger arbeiten müßten: antreffbar in Chats; als Mailpartner; als Eröffner von Gebetsgruppen im StudiVZ; als Gestalter ganzer Portale; als Bibelkreisteilnehmer im second-life; als spirituelle Blogger; als Filmemacher in youtube; als Ork-, Magier-, Zauberer- oder Elfen-Avatare in "World of warcraft" usw. Worum es geht, hat neulich ein jugendlicher Gesprächspartner so zusammengefaßt:

"Ich glaube, Jesus würde heute seine Jünger in Facebook suchen, Paulus würde heute seine Briefe bloggen und Petrus hätte den Hahn als Handy-Klingelton, damit er nie vergißt, was Jesus für ihn getan hat."15

Liturgie oder: Was verzaubert?

Ein offensichtlicher Trend der gegenwärtigen Jugendpastoral liegt in dem Bestreben, die Erschließungskraft des Glaubens über die Erschließungskraft der Körpersinne freizulegen. Setzte man in früheren jugendpastoralen Dekaden mehr auf die Attraktivität und Dynamik von Diskursräumen, so steht heute stark der Kirchenraum im Vordergrund. Mystagogie wird vielfach wörtlich als Weg von Körpern im Raum verstanden und dann beispielsweise als Jugendwallfahrt oder Kirchenbegehung gestaltet. Mehr als Debatten steht dabei Stille und mehr als reflektierte Gruppendynamik stehen Kerzenlicht und atmosphärische Stimmung im Vordergrund. Glaube soll entsprechend der Bedürfnislage heutiger junger Leute mehr erlebt als durchdacht werden.

Die Frage lautet, ob Glaube tanzbar ist; und mehr als logische Widerspruchsfreiheit der angebotenen Texte interessiert heute die emotionale Qualität der Impulse. Der Dom wird verdunkelt und nur von Kerzenlicht erhellt; im Kirchenraum wird ein Sinnen-Parcours errichtet und "Body & Soul" genannt; Gottesdienste werden an "ungewöhnlichen Orten" wie Bankschalterhallen, Bunkern oder ShoppingMalls gefeiert; Karfreitagsliturgien werden als Tanz-Performances gestaltet; Taizé-Ecken in der Markenfarbe Orange gelten als "chilling corners" und locken mit Sitzkissen, Ikonen und Teelichtern; der Grund, zur Jugendliturgie zu gehen, ist die nach amerikanischer Freikirche klingende Praise-Band, nicht die Predigt. Insgesamt wird vor allem die kirchliche Liturgie stark unter den Aspekten von gelungener, das heißt hier mit säkularen Erlebnisstandards vergleichbarer, stimmiger Performanz rezipiert. Pointiert gesagt: Ob das Kommen etwas brachte, entscheidet sich weniger daran, ob es wahr oder gut, sondern mehr daran, ob es schön war. Wobei im jugendkulturellen Erleben des Schönen durchaus die Dimensionen des "Guten" und auch des "Wahren" zu finden sind, allerdings im Konfliktfall niedrigere Priorität genießen.

Die jugendsoziologische Theorie kennt dieses Phänomen einer zunehmend affirmativen Wendung weg vom Diskurs hin zur Performance gut und diskutiert es unter dem Begriff des "iconic turn"16 und des "Event"17. Wichtig für kirchliche Rezeptionsprozesse wird sein, daß man diese Entwicklung, die als grundlegender Wertewandel zu beschreiben wäre, nicht von vornherein als bloßen Verfall betrachtet. Es gibt gute Gründe, warum es für die Jüngeren intelligent, kreativ und sachgerecht ist, ihre Gegenwartserfahrung einer spät- oder postmodernen Wirklichkeit eher ikonisch als diskursiv zu erschließen. Trotzdem stehen die Akteure jugendpastoraler Angebote vor zwei großen Bewährungsproben: Zum einen muß sich die in diesem Berufsfeld sehr häufig anzutreffende eigene Wertprägung eines 68er-Postmaterialismus zu der oft so ganz anderen Wertprägung der 89er-Jugendlichen konstruktiv verhalten - und das ist echte Persönlichkeitsarbeit, die bis zur Einsicht in die vorübergehende Berufsunfähigkeit führen kann18. Zum anderen sind neue Formate gerade der Jugendliturgie zu finden, die performative Klasse haben und dabei aber trotzdem nicht einfach in den Modus ästhetischer Überwältigung wechseln, sondern die rationale Ausweisbarkeit des kultischen Geschehens mindestens potentiell bereithalten19.

Einen sehr entschiedenen und extrovertierten Schritt geht die jugendliturgische Initiative "Nightfever", gegründet von dem damaligen Kölner Seminaristen Andreas Süß als Reaktion auf den Weltjugendtag 2005 (‹www.nightfever-online.de›). Hier handelt es sich um das, was man früher einfach "Liturgische Nacht" genannt hätte. Allerdings weist der Flyer von "Nightfever Köln" verborgen bereits darauf hin, daß man es hier mit einem liturgischen Event großen Ausmaßes und besonderer Professionalität zu tun hat: Hinten auf dem Prospekt stehen die Werbelogos einer Firma für Show- und Veranstaltungstechnik sowie einer Kerzenfabrik. Tatsächlich wird bei "Nightfever" beides gebraucht und intensiv eingesetzt. "Nightfever" verwandelt die großen Kirchen und Kathedralen von mittlerweile über 20 Städten in ein nächtliches Lichter- und Kerzenmeer. Im Mittelpunkt der oft stundenlangen Treffen steht die eucharistische Anbetung. Die Möglichkeit dieser intimen Begegnung mit Gott wird von folgenden Elementen umrahmt, erleichtert und inspiriert: einem andauernden Musikteppich sakraler Instrumentalität; dem Einspielen von Psalm- und Bibelversen; der Möglichkeit von Beichtgesprächen und von priesterlichen Segnungen; dem Initiieren von fürbittendem Gebet; dem Besuch von Workshops und Gesprächsrunden, den sogenannten Glaubens-Talks. Eine besondere Note liegt in einem aktivierenden Element: Während des "Nightfevers" gehen die jugendlichen Teilnehmer/innen nach draußen und laden die Passanten und Touristen ihrer Stadt in "ihre" Kirche ein, um dort einige Minuten zu verweilen, den ästhetisch verfremdeten Kirchenraum zu kontemplieren, Kerzen anzuzünden oder ähnliches.

In der Zusammenschau all dieser Module kann die Initiative "Nightfever" unschwer als ein Kind des "iconic turn" gesehen werden, in dem die religiösen Performanzbedürfnisse junger Leute entschlossen bedient werden. Dabei überrascht mehreres: Einerseits, daß die doch leicht zu erkennende Kirchen-, Eucharistie- und Klerikerfokussierung der Veranstaltung nicht dazu führt, den sonst doch schnell einrastenden kirchenorganisatorischen Reflex einer Ablehnung der modernen Kulturtechniken zu aktivieren. Im Gegenteil: "Nightfever" nutzt das volle Spektrum der modernen Eventkultur, also etwa der Mechanismen der Raumverzauberung im Sinn liturgischen "cocoonings", der simulativen Benutzerführung, der Stimulation kulturellen Konsums, der Suggestion gemeinsamer inhaltlicher Fokussierung, der Reduzierung diskursiver zugunsten sphärischer Selbstvergewisserung, der Inszenierung von Prominenz, der PR-Techniken des branding usw.20 Zweitens überrascht, wie attraktiv offensichtlich genau diese Kombination von popkulturell anschlußfähiger christlich-konservativer Religiosität bei den Jüngeren ist. Es ist gar nicht abzustreiten, wie erfolgreich "Nightfever" agiert, wenn man pastoralen Erfolg einfach einmal als gelungene Mobilisierung der Zielgruppe faßt. Diese liturgische Form füllt die Dome dieses Landes, zeigt eine enorme Attraktivität des - mitunter faktisch bereits ausgestorbenen - Gestus der Anbetung, spiegelt eine ganz unverhohlene Popularität des sich vorwiegend sakramental inszenierenden Priesters und demonstriert einen echten jugendlichen Unwillen an allzu akzentuiert kognitiven und gruppendynamischen Glaubenszugängen.

Auch wenn sich kritische Nachfragen an das Konzept aufdrängen - etwa zum Thema Partizipation, Diakonie oder Kirchenbild -, ist doch festzuhalten, daß im erfolgreichen Setting "Nightfever" ganz wichtige Lernherausforderungen der Jugendpastoraltheologie liegen, die zu übergehen bedeutet, ein offenbar ganz dringendes Bedürfnis junger Leute nach religiöser Sicherung ihrer biographischen Kontingenzerlebnisse zu ignorieren. Natürlich werden hier zentrale Erfordernisse einer Jugendpastoral, etwa der Würzburger Synode, nicht bedient. Es geht nicht um reflektierte Gruppen, nicht um Selbstorganisation, nicht um diskursives Offenhalten von Glaubenswahrheiten, nicht um diakonal-politische Effekte, nicht um Bildung usw.21 All diese jugendpastoralen Errungenschaften werden durch "Nightfever" - und durch verwandte Phänomene wie "Jugend 2000" oder "Generation Benedikt" (‹www.generation.benedikt.de›) - nicht entwertet, wohl aber provoziert22. Die Debatte steht ins Haus, wie konstitutiv jugendliche Bedürfnisse auch dann für die jugendpastorale Theorie sind, wenn sie die herkömmlichen Diagnosen und Standardunterstellungen dauerhaft befremden.

Diakonie oder: Was macht stark?

Die bereits mehrfach angeklungene Event- und Projektförmigkeit der Jugendpastoral zeigt sich auch in neueren diakonischen Initiativen. Diese werden weiterhin zumeist von den Jugendverbänden verantwortet. Damit scheint eine erste wichtige Nachfrage zu jugendpastoraler Innovation beantwortet: Weiterhin besteht vor allem im diakonischen Bereich jenes Schisma weiter, das Liturgie und Verkündigung als Domänen der Gemeinde bzw. der Gemeindenähe ausweist, während Diakonie ganz offenbar von der Gemeinde kaum geleistet werden kann, sondern auf andere Sozialformen wie den Verband, den Orden, die Bewegung oder die Schule angewiesen Ist23. Zwar bringen solche großen Aktionen wie die "72-Stunden-Aktion" (‹www.72Stunden.de›) Pfarrjugend und Verbandsjugend zusammen, konstituieren aber keine festeren diakonischen Allianzen zwischen den beiden Sparten.

Umgekehrt ist die alljährliche, vor allem von der Meßdienerjugend getragene "Sternsingeraktion" zwar eine diakonische Initiative, führt aber in der Regel nicht zu einer konfrontierenden Begegnung mit Armut, Exklusion und Stigma marginalisierter Jugendlicher. Dieser Befund ist nicht sofort problematisch, könnte man doch durchaus arbeitsteilig Kompetenzen zuschreiben und etwa den explizit für Politik antretenden Jugendverbänden des BDKJ sozusagen das diakonische Aktionsfeld überlassen. Theologisch defizitär wird es aber dann, wenn das diakonische Engagement mit und für junge Leute im Zuge einer vor allem liturgisch identifizierten "Kerngeschäft-Pastoral" unter Einsparbedingungen oder unter Rekrutierungsdruck gestellt wird. Daß etwa "Häuser der offenen Tür" als reine Freizeitstätten im Vorfeld von "echter" Pastoral für entbehrlich gehalten werden; daß die "Option für die Armen" als lateinamerikanische Nostalgie abgetan wird; oder daß immer weniger neugeweihte Priester sich für die Jugendpastoral im Verband begeistern lassen - all das sind keine neuen Themen in der einschlägigen Debatte. Eine Standortbestimmung zur gegenwärtigen Jugendpastoral wäre aber unvollständig, würde sie nicht darüber informieren, daß diese Defizite weiterhin bestehen. Die Jugendpastoral im gesamten - als pfarrliche wie auch als gemeindliche - hat Anteil an der generell bestehenden Milieuverengung der katholischen Kirche in Deutschland. Diakonisch ausformuliert heißt das: Sie wird im wesentlichen getragen und genutzt von jenen jungen Leuten, die einen eher überdurchschnittlichen Zugang zu ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital haben. Wenn man einmal den berühmten Kamm hernehmen und über ihn scheren darf: Es geht in der Jugendpastoral eher gebildet, eher anständig, eher gut situiert, eher perspektivreich, eher beschützt und eher unterstützt zu als in anderen Bereichen jugendlicher Lebenswelten. Wie die BDKJ/Misereor-Studie U27 gezeigt hat, fehlen in den Jugendverbänden - und wohl auch in der Pfarrjugend - die Milieutendenzen der Konsum-Materialisten und der Hedonisten. Dies wäre allein schon bedenkenswert, treten doch Verbände wie Kolpingjugend oder Christliche Arbeiterjugend (CAJ) mit der charismatischen Gründungsidee auf den Plan, gerade im Feld von Handwerker- und Arbeiterjugendlichen beheimatet zu sein. Aber es kommt gemäß der Studie sogar noch schlimmer: Denn offenbar reproduzieren die Jugendverbände in sich selber die Strukturen sozialer Ungleichheit, die in der gesamten Gesellschaft herrschen. Die sozialen Abstoßungsbewegungen, die Distinktionen und Aversionen gehen innerhalb der Verbände offenbar in ähnliche Richtungen wie gesamtgesellschaftlich24.

Zwei Projekte sollen vorgestellt werden, die vor diesem Hintergrund neues diakonisches Potential offenbaren. Das Projekt "Stark ohne Gewalt" (‹www.starkohnegewalt. de›) beeindruckt als Kooperation einer internationalen Künstlergruppe (Gen Rosso), einer geistlichen Bewegung (Fokolarbewegung e.V.), verschiedener Wissenschaftler (darunter der bekannte Kriminologe Christian Pfeiffer), eines politischen Unterstützungsnetzwerks (mit EU und verschiedenen Landespolitikern als Schirmherrn) sowie der Szene der Pädagogen, Schulleiter und Sozialarbeiter als Nutznießern des Projekts für ihre Einrichtungen. Hinter "Stark ohne Gewalt" steht der Verein "Starkmacher e.V." (‹www.starkmacher.eu›), der sich mit der Unterstützung von EU-Förderprogrammen für Gewaltprävention, internationale Lernpartnerschaften, Demokratietrainings und Anti-Diskriminierungsstrategien einsetzt.

Entstanden ist alles aus dem Musical "Streetlight" der internationalen Performance-Artgroup "Gen Rosso". Dieses wurde zunächst als Konzert aufgeführt, doch entstand schnell die Idee, eine aktive Mitarbeit junger Leute an den Aufführungen zu ermöglichen. Das Musical handelt nach einer wahren Begebenheit von einem Bandenkrieg im Chicago der 60er Jahre und zeigt den Kampf eines Bandenmitglieds gegen Gewalt. Dieses Thema ließ sich schnell in den hochaktuellen Diskurs um Gewaltprävention einbringen, so daß das Musical heute als Aktionswoche an Schulen, aber auch in Gefängnissen oder in internationalen Jugendcamps erarbeitet wird. Das Vorgehen ist sehr einfach: Gesangsinteressierte Schülerinnen und Schüler proben mit den Sängern von Gen Rosso, Tanzinteressierte mit den Tänzern; Technikinteressierte arbeiten mit den Profis an Tontechnik und Licht usw. Die ganze Schule wird involviert, und die gesamte Lehrer- und Elternschaft sowie die Freunde der Schüler sind dann zum Konzert eingeladen. Über Pressearbeit wird eine enorme Sensibilisierung für das Thema der Gewalt unter jungen Leuten erreicht. Bemerkenswert ist dabei die Zielgruppendefinition des Projekts: Ausgehend von der These, daß Täter und Opfer von Jugendgewalt heute stark im Fokus anderer Aktionsprogramme stehen, konzentriert sich "Stark ohne Gewalt" auf die große Gruppe der passiven Zuschauer von Gewalt. Diese sollen handlungsfähig werden im Erkennen und Auflösen von Gewaltstrukturen. Daß derartige Thematisierungen im Jugendknast, in sozialen Brennpunkten, aber auch in Regelschulen alles andere als harmlos sind, kann man sich denken und zeigt die Erfahrung mit dem Projekt25.

Im Kern ist "Stark ohne Gewalt" somit ein Gewaltpräventionsprojekt einer jugendkulturell arbeitenden Schul- bzw. Sozialpastoral. Es überwindet nicht nur, zumindest partiell, die jugendlichen Distinktionslinien, sondern macht sie selbst zum Thema. Pastoraltheologisch ist bemerkenswert, daß es hier einer geistlichen Bewegung gelingt, ihr spirituelles Motivationspotential mit wissenschaftlicher, politischer und medialer Professionalität, mit Netzwerkmanagement und mit unmittelbarem Anwendungsnutzen zu verknüpfen. Um es mit dem Sprachspiel der Eingangsüberlegungen zu formulieren: Es ist mutig, die geistliche Einsicht in die einheitsstiftende Liebe Gottes - das ist der Grundansatz der Fokolarbewegung - in ihr "Außen" zu halten, also hier: in die Brutalität von Ausgrenzung, Aggression und tiefen psychischen wie auch körperlichen Verletzungen und es damit in enormer Weise zu riskieren. Anderseits entsteht genau hieraus geistliche Autorität am konkreten Ort: Daß es eine Lebensalternative zur Gewalt gibt, wird inmitten und nicht jenseits der Gewalt behauptet, vor allem aber verkörpert.

In ähnlicher Weise diakonisch arbeitet das Projekt "Wo geh'se?" der CAJ im Bistum Essen (‹www.cajessen.de›). Die CAJ besuchte junge Leute in Gemeinden, Schulklassen und Einrichtungen, führte mit ihnen Projekttage durch und drehte mit den Jugendlichen einen Dokumentarfilm über die Lebensziele junger Leute sowie ihre Einschätzung, inwiefern diese in der für sie wahrnehmbaren Gesellschaft wohl erreichbar sind. Dieser Film wurde in Anwesenheit von viel Prominenz im renommierten Essener Kino "Lichtburg" gezeigt. Der Effekt dieser Aufführung lag im Überschreiten sonst üblicher Milieugrenzen. Die CAJ setzt sich speziell für benachteiligte Jugendliche und junge Menschen im Übergang zwischen Schule und Beruf ein, interessiert sich für ihre Perspektiven und will mit ihnen ihre Talente und Handlungspotentiale realisieren. Darum sind in diesem Dokumentarfilm auch überwiegend jene Jüngeren zu sehen, die die Milieukonventionen sonst unsichtbar sein lassen. Es berührt schon an sich, dank der Interviewtechnik des Films in die Gesichter junger Leute zu sehen, von denen man als Angehöriger der gesellschaftlich gut inkludierten Milieus sonst kaum voll angesehen wird - und umgekehrt. Dann aber diese "harten" Jungs und Mädchen ganz ungeschützt von ihren Lebenszielen und -träumen, ihren "Prognosen" und der Einschätzung ihrer Chancen reden zu hören, das wirkt nach. Jugendpastoral wird hier insofern zur Helferin weitgehend chancenloser junger Leute, als sie die allen bekannten, aber tabuisierten Exklusionsstrukturen moderner Leistungsgesellschaften im eigentlichen Sinn schamlos offenlegt. Und dies ist insofern doppelt wirksam, als der ganze Film ohne Ressentiment und Schuldzuweisung auskommt, sondern am Ende einfach dazu einlädt, Unterstützungsstrukturen für marginalisierte junge Leute zu schaffen26. Wiederum: Kirche gewinnt an sozialer Zuschreibung von Vertrauen, wo sie nicht von sich her auf Jugendliche zugeht, sondern von den Jugendlichen her sich selber neu erkennt.

An vielen weiteren diakonischen Projekten ließe sich gerade diese Einsicht weiter illustrieren: so etwa an den Freiwilligendiensten der Kirchen, an den sich etablierenden Jugendstiftungen (beispielsweise ‹www.hilfreich-edel-gut.de› im Bistum Essen), an Baucamps wie dem "Friedensweg von Sarajewo" (‹http://friedensweg.net›), an schulpastoralen Initiativen wie dem Compassion-Projekt27 oder an der Fazenda da Esperança-Bewegung für suchtkranke junge Leute (‹www.facenda.de›)28.

Faktoren jugendpastoraler Innovation

Es wäre reizvoll, anhand solcher Praxisbeispiele erfolgreicher Jugendpastoral systematisch nach den Faktoren zu fahnden, die die innovative Weiterentwicklung der Jugendpastoral anzeigen. Dies kann hier nur intuitiv geschehen. Offensichtlich braucht es echte Gründergestalten, also risikofreudige Leute, die sich die Realisierung jugendpastoraler Ideen biographisch wirklich etwas kosten lassen. Es braucht mediale Mobilisierungs- und Vernetzungsstrategien. Es braucht das Bewußtsein, sich weniger von abstrakten Zielen als von konkreten Orten und Problemen herausfordern zu lassen. Es braucht eine entschlossene Förderung der ästhetisch-popkulturellen Wirklichkeitserschließungsstrategien junger Leute heute. Es braucht eine robuste geistliche Formation mindestens derer, die im Projekt als Anbieter und damit als personale Projektionsfiguren auftreten.

Es braucht ein gutes dogmatisches Grundwissen über "Lumen Gentium" und "Gaudium et spes". Es braucht in den Seelsorgeämtern und pastoralen Dezernaten gute Chefinnen und Chefs, die zu jugendpastoralen Laborversuchen ermutigen und diese großzügig budgetieren. Es braucht diakonischen Mut. Es braucht die innere Freiheit, sich nicht an die Denkverbote zu halten, die mit den überkommenen Polaritäten von "links - rechts", "konservativ - progressiv" usw. verbunden sind. Es braucht die Freude über die Chancen, die im kirchlichen Standortwechsel von "Macht" zu "Markt" liegen. Denn (nichts gegen Senioren!) wenn Gott jung ist, dann ist "Mutter Kirche" mehr als eine hutzelige Kräuteromi. Dann ist sie eine Freeclimberin am Hang, mit atemberaubender Aussicht.

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