"Meine Verhandlungen mit mir und mit Gott"Zum 50. Todestag von Dag Hammarskjöld

Im September 1961 starb der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Dag Hammarskjöld, bei einem Flugzeugabsturz. Nikolaus Klein gibt einen Einblick in die tagebuchähnlichen Aufzeichnungen Hammarskjölds, die nach dessen Tod unter dem Titel "Zeichen am Weg" veröffentlicht wurden und große Aufmerksamkeit fanden.

Vor fünfzig Jahren, in der Nacht vom 17. zum 18. September 1961, starb der zweite Generalsekretär der Vereinten Nationen, der Schwede Dag Hammarskjöld. Seine Dienstmaschine stürzte unter bis heute nicht restlos aufgeklärten Umständen beim Landeanflug in der Nähe des Flughafens der damals noch zu Nordrhodesien (heute zu Sambia) gehörenden Stadt Ndola ab1.

Plötzlicher Tod eines international Geschätzten

Dort wollte er mit dem Führer der separatistischen kongolesischen Provinz Katanga, Moïse Tschombé, über die Bedingungen verhandeln, unter denen die UN-Truppen ihre Operationen zur Sicherung von Frieden und Ruhe in der Republik Kongo fortsetzen und damit ihren Auftrag zur Wiederherstellung von deren staatlicher Einheit wahrnehmen könnten. Im Rahmen dieses Einsatzes war es zu direkten Kampfhandlungen zwischen den Blauhelmen und den Soldaten Katangas gekommen. Dem UN-Generalsekretär ging es darum, einmal in direkten Verhandlungen die Handlungsfreiheit für die UN-Truppen zurückzugewinnen und gleichzeitig die Neutralität im innenpolitischen Konflikt der Republik Kongo zu bewahren, wie es ihm durch das UN-Mandat vom Juli 1960 für den Kongo (ONUC) aufgetragen worden war2.

Der plötzliche Tod von Dag Hammarskjöld erschütterte die internationale Öffentlichkeit. Die Reaktion galt vor allem dem überragenden Diplomaten, dessen Integrität als Generalsekretär für die Mehrheit der Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen unstrittig war. Diese Wertschätzung zeigte sich schon während seines Lebens, als er im September 1957 einstimmig für eine zweite Amtszeit als UN-Generalsekretär bestellt wurde, und in dem überwältigenden Vertrauensvotum, mit dem die UN-Vollversammlung 1960 auf die Forderung des sowjetischen Ministerpräsidenten und Generalsekretärs der KPdSU, Nikita Chruschtschow, reagierte, Dag Hammarskjöld abzulösen und den Posten des UN-Generalsekretärs durch drei Generalsekretäre, die sogenannte "Troika", zu ersetzen. Dag Hammarskjöld hatte daraufhin die Vertrauensfrage gestellt und sie auch gewonnen.

"Eine Art Weißbuch": "Zeichen am Weg"

Zu diesem Zeitpunkt gab es nur wenige Freunde und enge Mitarbeiter, die von Dag Hammarskjölds intensiver Auseinandersetzung mit seinem Christsein, mit den Traditionen der Mystik und der Religionen Kenntnis hatten. Darum reagierte die weltweite Öffentlichkeit überrascht, als dessen private Aufzeichnungen, eine Art Tagebuch, unter dem Titel "Vägmärken" 1963 in Stockholm und zwei Jahre später - neben Übersetzungen in einer Reihe weiterer Sprachen - unter dem Titel "Zeichen am Weg" in deutscher Sprache veröffentlicht wurden3.

Diese Notizen, ein Typoskript von rund 160 Seiten, fanden sich im persönlichen Nachlaß in Dag Hammarskjölds New Yorker Privatwohnung. Sie umfassen über 600 Einträge, von denen die meisten in einer knappen, manchmal bis zum Aphorismus verdichteten Prosa verfaßt sind. Oft bestehen diese nur aus einem Satz; manchmal haben sie aber den Umfang einer ganzen Seite. Zeigen schon die Prosatexte einen formbewußten Autor, so wird dies noch deutlicher in jenen Passagen, die er entweder im traditionellen Schema der Blankverse oder in der strengen Form des japanischen Haiku geschrieben hat. In einem Eintrag vom August 1959 wird auf die formale Struktur des Haiku ausdrücklich Bezug genommen: "Siebzehn Silben/öffnen die Tür/für das Gedächtnis und seinen Sinn" (172).

Auffallend ist, daß sich die Zahl und der Umfang der Eintragungen ungleich über die Lebenszeit Dag Hammarskjölds verteilen: Der Verfasser hat sie anfänglich nach Jahresgruppen und von 1950 an nach einzelnen Jahren geordnet. Die erste mit einem präzisen Datum versehene Notiz findet sich sehr spät. Sie trägt das Datum vom 7. April 1953, wurde also wenige Tage nach seiner Berufung zum UN-Generalsekretär niedergeschrieben. In der Folge finden sich immer mehr Eintragungen mit einer präzisen Datierung. Man gewinnt den Eindruck, daß der Verfasser mit dieser Datierungsweise das Ziel verfolgte, seine Eintragungen bewußt mit Zeitabschnitten bzw. Ereignissen während seiner Amtszeit zu verknüpfen, während denen sie entstanden sind, um sich später daran erinnern zu können.

Neben der chronologischen Ordnung verwendete Dag Hammarskjöld auch eine inhaltliche Gliederung: So versah er die ersten drei Jahresgruppen nicht nur mit den entsprechenden Datierungen (1925-1930; 1941-1942; 1945-1949), sondern fügte zusätzliche Überschriften hinzu ("So war es-"; "Zwischen-Jahre-"; "Zu neuen Ufern-?").

Den umfangreichsten Teil von "Zeichen am Weg" machen die Notizen aus den Jahren 1950 bis 1954 aus. Für Dag Hammarskjöld bilden sie eine eigene Einheit, denn er versah sie jeweils mit der gleichen Überschrift: "Bald naht die Nacht." Dieser Satz ist ein Zitat: Es ist der Schlußvers der letzten Strophe eines von Bischof Franz Mikael Franzén (1772-1847) verfaßten Hymnus, den Dag Hammarskjölds Mutter jeweils am Neujahrstag im Familienkreis vorzutragen pflegte. In "Zeichen am Weg" fungiert der Vers als Überschrift für das jeweilige Jahr, und gleichzeitig beginnt damit der erste Satz des Eintrags. Dag Hammarskjöld hat ihn jeweils unterschiedlich ergänzt. Mit dieser Verfahrensweise gelang es ihm, den Hymnus als Leitspruch für mehrere Jahre zu benützen, ihn aber gleichzeitig unterschiedlich zu deuten. In der ursprünglichen Fassung des Hymnus ist in der letzten Strophe nicht das Ende eines einzelnen Tages gemeint, sondern es wird die Begrenztheit menschlichen Lebens zum Thema gemacht. Dag Hammarskjöld greift das auf, gibt aber mit seinen Variationen dem Text unterschiedliche Deutungen: Einige heben das lange und mühsame Warten auf das Ende des Lebens hervor, andere formulieren die Einsicht, daß die Zeit vor dem Lebensende den Ort darstellt, wo der Mensch seine Verantwortung wahrzunehmen hat.

Diesem Willen zur formalen Strenge, welche die Texte prägt, korrespondiert die Absicht, die der Autor mit seiner Niederschrift verfolgte. In einem Brief, der dem nachgelassenen Konvolut beilag, überließ Dag Hammarskjöld seinem ehemaligen Kollegen Leif Belfarge aus dem schwedischen Außenministerium die Entscheidung, den Text zu veröffentlichen:

"Lieber Leif, einmal habe ich Dir erzählt, vielleicht erinnerst Du Dich daran, daß ich trotz allem eine Art Tagebuch geführt habe. Ich wäre froh, wenn Du Dich irgendwann seiner annähmest. Hier ist es. Begonnen wurde es ohne einen Gedanken daran, daß jemand es lesen sollte. Mein späteres Schicksal, mit allem, was über mich geschrieben oder gesagt worden ist, hat aber die Lage verändert. Das einzig richtige Profil, das man zeichnen könnte, ergeben diese Notizen. Darum habe ich in den letzten Jahren mit einer Veröffentlichung gerechnet, obwohl ich weiterhin für mich selbst und nicht für ein Publikum schrieb. Wenn Du findest, daß sie verdienen gedruckt zu werden, so gib sie heraus - als eine Art Weißbuch meiner Verhandlungen mit mir selbst - und mit Gott."4

Der Brief an Leif Belfarge nimmt Themen und Fragestellungen auf, die Dag Hammarskjöld schon in den Weihnachtstagen 1956 niedergeschrieben hatte. Dabei formulierte er zum ersten Mal den Gedanken, seine Notizen zu veröffentlichen. Mit dem Ende der Suez-Krise im November 1956 hatte er persönlich einen großen diplomatischen Sieg errungen und die Vereinten Nationen als wirksamen Friedensfaktor etablieren können. In diesem Zusammenhang prüfte er die Beweggründe, die hinter seiner Niederschrift stehen könnten:

"Du fragst, ob diese Aufzeichnungen nicht letztlich ein Betrug an dem Lebensweg sind, den du dir vorgeschrieben? Diese Aufzeichnungen-? Sie waren Wegzeichen, aufgerichtet, als du an einen Punkt kamst, wo du sie brauchtest, einen festen Punkt, der nicht verloren gehen durfte. Und das sind sie geblieben. Aber dein Leben hat sich verändert, und du rechnest nun mit möglichen Lesern. Vielleicht wünschst du sie dir sogar! Für manchen könnte es doch von Bedeutung sein, einen Schicksalsweg zu verfolgen, über den der Lebende nicht sprechen mochte. Ja, aber nur wenn deine Worte aufrichtig sind, jenseits von Eitelkeit und Selbstbespiegelung" (148).

Das Motiv für die Aufzeichnungen

Deutlich erkennbar ist im Text das Motiv der "Wegzeichen": Damit bezeichnet ein Bergsteiger üblicherweise die nur für ihn erkennbaren Markierungen, mit denen er bei einer (ersten) Besteigung den gefundenen und individuell angepaßten Weg für eine spätere weitere Begehung festhält. Solche Zeichen sind im allgemeinen für andere nicht von Nutzen. Dieser Gedankengang eines nur auf seine Person beschränkten Wertes der Aufzeichnungen wird im weiteren Text relativiert, wenn Dag Hammarskjöld die Veränderung seines Lebens und den Schicksalsweg erwähnt und hinzufügt, sie könnten auch für andere von Bedeutung sein. Welche Veränderung und welcher Schicksalsweg gemeint sein könnten, bleibt hier ungesagt -, muß aber auch nicht thematisiert werden, weiß doch der Schreibende, was er damit meint. Zwar gibt er im unmittelbar darauf folgenden Abschnitt einen indirekten Hinweis darauf, was er im Auge hat, wenn er zwei Aussagen über die konsequente Fortsetzung seines Lebensweges formuliert und im dritten Satz wieder auf das Bild aus der Welt des Bergsteigers, der diszipliniert seinen Aufstieg zu Ende geht, zurückgreift. Er macht damit den Gedanken stark, daß das letzte Wegstück über die Bedeutung des ganzen zurückgelegten Weges entscheidet.

Berücksichtigt man den Zeitpunkt der Niederschrift, so legt sich der Schluß nahe, Dag Hammarskjöld habe hier mit "den Veränderungen" seine Berufung zum UN-Generalsekretär und seine bisherige Amtszeit gemeint:

"Weiter! Deine Befehle werden im Verborgenen erteilt. Möge ich sie immer hören - und antworten. Weiter! Welche Entfernung ich auch zurückgelegt, sie gibt mir nicht das Recht, innezuhalten. Weiter! Die Sorgfalt bei den letzten Schritten unter dem Gipfel entscheidet über den Wert all dessen, was voraufgegangen sein mag" (148).

Was Dag Hammarskjöld 1956 mit dem Bild der Wegmarkierungen eines Bergsteigers zum Ausdruck brachte und gleichzeitig relativierte, formulierte er zum ersten Mal in einer Notiz von 1950, in der er eher beiläufig auf den Nutzen seiner Erfahrungen für andere zu sprechen kam: "Dieser bescheidene Versuch, eine Erfahrung greifbar zu machen (für mich, für andere?)". Auf diese in der Klammer formulierte Frage gab er keine direkte Antwort. Stattdessen beschrieb er Inhalt und Bedeutung seiner Notizen für sich:

"Aufgaben von morgen - die Freundschaft von X., die Notierung meiner Leistung durch Y: Papierschirme, die ich aufspanne gegen das Nichts, um den Blick zu hindern, daß er sich im Unendlichen, in Zeit und Raum verliert" (76).

Das an dieser Stelle eingeführte Bild von den Papierschirmen in ihrer fragilen Zerstörbarkeit, machte es ihm möglich, nach den Bedingungen einer authentischen Selbsterkenntnis zu fragen:

"Kleine Papierschirme. Zerblasen vom ersten Windhauch, verbrannt von der geringsten Flamme. Zärtlich gehegt - doch ständig getauscht. Dieses Schwindelgefühl vor les espaces infinis - nur überwindbar, wenn wir es wagen, schutzlos in sie hineinzublicken. Und sie als Wirklichkeiten zu erkennen, vor denen wir unsere Existenz rechtfertigen sollen. Denn dies ist die Wahrheit, zu der wir gelangen müssen, um zu leben: das All ist, und wir sind nur in ihm" (76).

Tauchte der Gedanke, seine Aufzeichnungen könnten nicht nur für ihn, sondern auch für andere von Nutzen sein, schon vor seiner Zeit als UN-Generalsekretär auf, so mag er mit "den Veränderungen", die ihn spätestens 1956 ausdrücklich veranlaßt haben, eine Veröffentlichung in den Blick zu nehmen, sicher auch daran gedacht haben, wie seine Person öffentlich wahrgenommen wird. Wichtiger schien ihm aber durchgehend die Frage gewesen zu sein, ob seine Notizen nicht doch auch einen Nutzen für andere haben könnten. Diese Vermutung wird durch die Wortwahl, die Dag Hammarskjöld in seinem Brief an Leif Belfarge gebrauchte, gestützt, das Tagebuch sei "… eine Art Weißbuch meiner Verhandlungen mit mir selbst - und mit Gott".

Ein solches Buch mußte für alle jene enttäuschend sein, die von privaten Notizen eines UN-Generalsekretärs Hintergrundinformationen über politische und diplomatische Vorgänge erwartet hatten. Stattdessen sahen sie sich einem in Form und Inhalt komplexen Textkorpus gegenüber, der einen Zeitgenossen zeigt, der in einem einflußreichen politischen Amt seine Motive einer ständigen kritischen Prüfung unterzieht und diese Überlegungen in Beziehung zu seiner Identität als einem gläubigen Christen setzt. In Henry P. van Dusens Analyse von "Zeichen am Weg" spiegelt sich dieser Sachverhalt deutlich wider: Er konnte zeigen, daß von den Eintragungen Dag Hammarskjölds während seiner Amtszeit als UN-Generalsekretär sich dreimal mehr Texte auf kirchliche Feiertage, auf die Wiederkehr seines Geburtstags als auf politische und diplomatische Vorgänge, an denen er beteiligt war, beziehen5.

Gleichzeitig ist nicht von der Hand zu weisen, daß Inhalt und Form der Aufzeichnungen einen aufmerksamen Zeitgenossen zwar zu Recht beeindrucken konnten, aber nicht unbedingt überraschen mußten. Denn der UN-Generalsekretär war sehr diskret in seinen Äußerungen über seine Person; wo er es aber für angemessen hielt, war er präzise und direkt, wenn er sich über die Motivationen und die Gründe seines Handelns amtlich und privat äußerte. Zumindest zeigen die in den letzten Jahren teilweise zugänglich gewordenen Briefwechsel mit Freunden und engsten Mitarbeitern, wie wichtig ihm der Austausch und die Diskussion von Grundoptionen für seine Tätigkeit waren. Dasselbe gilt für eine Reihe von Ansprachen, die er bei akademischen Ehrungen hielt, und für die Einführungen in die Rechenschaftsberichte, die er für die jährlichen UN-Generalversammlungen schrieb.

"Woran ich glaube"

Im November 1953 verfaßte Dag Hammerskjöld für Edward R. Murrows Rundfunkreihe "This I Believe" einen Text mit dem Titel "Old Creeds in a New World"6. Darin spricht er von den politischen und wissenschaftlichen Veränderungen des 20. Jahrhunderts, die so tiefgreifend seien, daß sie einen Menschen veranlassen, sich seiner Herkunft zu vergewissern und seine Überzeugungen zu prüfen. Von seinem Vater habe er gelernt, daß es die Aufgabe eines Politikers sei, jenseits persönlicher Interessen seine Amtspflichten wahrzunehmen. Erbe seiner Mutter sei seine Überzeugung, alle Menschen seien in gleicher Weise Kinder Gottes. Erst spät sei er zur Einsicht gelangt, daß diese von seinen Eltern übernommenen Haltungen vereinbar seien mit jener Form intellektueller Redlichkeit, die von einem mündigen Menschen heute gefordert ist:

"Die Welt, in der ich aufwuchs, wurde von Prinzipien und Idealen einer vergangenen Zeit bestimmt, die weit entfernt von den Problemen zu sein scheint, mit denen ein Mensch in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts konfrontiert wird. Mein Weg war jedoch keine Abkehr von diesen Idealen. Im Gegenteil: Ich wurde zu der Überzeugung geführt, daß sie auch in unserer heutigen Welt Gültigkeit haben. Auf diese Weise hat mich das nie nachlassende Bemühen, ehrlich und unvermittelt einen persönlichen Glauben aus Erfahrung und aufrichtigem Denken aufzubauen, in einem Kreis geführt. Ich erkenne und bekräftige nun uneingeschränkt jene Glaubenssätze, die mir einst vermittelt wurden."7

Hinter diesem knappen Rückblick verbirgt sich eine eindrucksvolle wissenschaftliche und politische Karriere. Am 29. Juli 1905 im mittelschwedischen Jönköping geboren, verbrachte Dag Hammarskjöld den größten Teil seiner Jugendzeit und seine ersten Studienjahre in Uppsala, wo sein Vater Hjalmar Hammarskjöld Gouverneur war. Er erlebte seinen Vater als pflichtbewußten Beamten und dem Frieden verpflichteten Politiker, der diese Ziele als (parteiloser) Ministerpräsident während des Ersten Weltkriegs bis zu seinem abrupten, nach heftigen Protesten der Bevölkerung gegen seine kriegsbedingte Rationierungspolitik erfolgten Rücktritt wie als schwedischer Delegierter auf Friedenskonferenzen und im Völkerbund konsequent vertrat.

Gleichzeitig verband ihn eine tiefe Freundschaft mit seiner Mutter, deren künstlerische und religiöse Interessen er teilte. Über sie lernte er auch die Familie des Erzbischofs von Uppsala, Nathan Söderblom (1866-1931), kennen8. Nach glänzenden Studien der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften in Uppsala und Stockholm tritt er 1930 als parteiloser Fachmann in den Dienst der Regierung und wird zusätzlich 1935 Sekretär der Reichsbank. In dieser Zeit beschäftigt er sich mit Fragen der Arbeitslosigkeit und der Konjunkturpolitik - Themen und Projekte, die in den 50er und 60er Jahren für die Entwicklung des schwedischen Sozialstaates von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Diese nationale Komponente wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit seiner Berufung als "Ständiger Berater in internationalen Finanz- und Wirtschaftsfragen" und dem Wechsel ins Außenministerium durch eine vielgestaltige Tätigkeit auf internationaler Ebene erweitert. Diese Arbeit als parteipolitisch unabhängiger Fachmann und als Diplomat eines neutralen Landes machte ihn 1953 zu einem möglichen Kandidaten für das Amt des UN-Generalsekretärs, nachdem die Wahl eines Nachfolger für den (ersten) UN-Generalsekretär, den Norweger Trygve Lie, in eine Sackgasse geraten war. Für ihn überraschend, wurde er dann auch Anfang April 1953 zum Generalsekretär berufen und bestätigt.

Für eine Äußerung eines Politikers ist es nicht ungewöhnlich, wenn er seine politischen Optionen mit seiner Herkunft in Beziehung setzt. Insoweit bewegt sich der Text Dag Hammarskjölds innerhalb eines konventionellen Rahmens. Überraschend ist nun aber, wie er unvermittelt nach der Schilderung dessen, was seine familiäre Herkunft betrifft, mit der Definition einsetzt, was Glaube ist:

"Glaube ist ein Zustand des Intellekts und der Seele. In diesem Sinne kann man die Worte des spanischen Mystikers Johannes vom Kreuz verstehen: 'Glaube ist die Vereinigung der Seele mit Gott.' Die Sprache der Religion bietet ein Repertoire von Formeln, die eine grundlegende spirituelle Erfahrung festhalten. Sie beschreibt nicht im Sinne philosophischer Genauigkeit die Realität, wie sie unseren Sinnen und den Instrumenten logischen Denkens offensteht."

Dag Hammarskjöld begnügt sich im folgenden aber nicht damit, seine Grundposition zu formulieren, vielmehr beschreibt er ausdrücklich die Anregungen, die er durch die Lektüre theologischer und religiöser Bücher gewonnen habe. An erster Stelle nennt er die Werke Albert Schweitzers. Sie hätten ihm eine Ethik erschlossen, die einmal den von seinem Vater und seiner Mutter übernommenen Idealen entsprächen und den aktuellen weltpolitischen Herausforderungen angemessen sei. Darüber hinaus habe ihm Albert Schweitzer einen Schlüssel geliefert, wie ein moderner Mensch die Evangelien verstehen könne. Mag eine solche Lektüre für einen Diplomaten und Politiker ungewöhnlich, aber nicht ganz ausgeschlossen sein - Albert Schweitzer war nicht nur eine weltweit bekannte Persönlichkeit, sondern er pflegte durch seinen Briefwechsel mit vielen Politikern persönlichen Kontakt -, so überrascht die unmittelbar darauf folgende Textpassage, wenn Dag Hammarskjöld schreibt, sein Verständnis, wie eine Ethik menschlicher Beziehungen entwickelt werden müsse, sei durch die Lektüre mittelalterlicher Mystik geprägt. Bei ihr habe er gelernt, daß ohne "Selbsthingabe" das menschliche Subjekt seine Identität nicht finden könne. Erst auf diesem Wege seien menschliche Beziehungen möglich, welche nicht über die Mitmenschen verfügen und so den Zugang zu ihnen verschließen. Abschließend bemerkte Dag Hammarskjöld:

"Ich weiß, daß die Entdeckungen der Mystiker über die Regeln des inneren Lebens und des Handelns auch heute nichts an Bedeutung verloren haben."

Setzt man diese apodiktische Feststellung, mit der er seinen Rundfunkbeitrag abschließt, mit dessen Titel "Old Creeds in a New World" in Beziehung, ergibt sich zwanglos der Eindruck, Dag Hammarskjöld wollte mit ihr nicht nur eine persönliche Erfahrung zur Sprache bringen, sondern darauf hinweisen, daß sie für alle Menschen gilt. Noch unausgesprochen kommt hier seine Überzeugung zum Ausdruck, daß das, was er als für seine Existenz grundlegend erfahren hat, auch für andere Menschen entscheidend ist.

Dieser Befund erlaubt die Feststellung, daß die nachgelassenen Texte Dag Hammarskjölds in "Auf dem Weg" im Vergleich zu den während seines Lebens öffentlich geäußerten Stellungnahmen eigentlich keine Überraschung hätten bieten müssen. Überraschend und neu ist aber, daß sie das mühsame Ringen um seine menschliche und religiöse Identität festhalten. In diesem Sinne ist die von ihm gebrauchte Kennzeichnung für die Tagebuchnotizen als "eine Art Weißbuch meiner Verhandlungen mit mir selbst - und mit Gott" glücklich gewählt.

Fragen, Zweifel und Konflikte finden sich auch während der Zeit als UN-Generalsekretär, auch wenn man den Eindruck gewinnt, daß Dag Hammarskjöld die mit seinem Amt gegebenen Anstrengungen, Pflichten, Erfolge und Mißerfolge ohne große Mühe mit seinem Selbstverständnis als einem verantwortungsvoll handelnden Menschen von weltpolitischer Bedeutung in Einklang zu bringen vermochte. Stimmungswechsel kann man bis zu seinem Lebensende innerhalb eines Tages bzw. im Abstand weniger Tage beobachten. So wechselt ein zustimmender Eintrag wie der von Weihnachten 1956: "Dein eigener Einsatz 'bewirkte das nicht', nur Gott - doch freue dich, daß Gott deinen Einsatz brauchte in seinem Werk" (147) zu unerbittlicher Selbstkritik zwei Tage danach:

"Eitelkeit reckt ihr lächerliches Köpfchen empor und reicht dir den Narrenspiegel. Einen Augenblick lächelt der Histrione und zieht die Miene zurecht für die Rolle. Einen Augenblick nur - aber einen zu viel. In solchen Stunden lädst du die Niederlage ein und verrätst den, dem du dienst" (148).

"An der Grenze des Unerhörten"

Mehrere Kommentatoren von "Zeichen am Weg" haben die Meinung vertreten, daß das Jahr 1952, das heißt das Jahr vor seiner Bestellung als UN-Generalsekretär, für Dag Hammarskjöld eine Lösung einer tiefgreifenden Lebenskrise gebracht hat9. Er selbst wies in einem Rückblick an Pfingsten 1961 auf eine solche Wende hin, gibt aber kein Datum an; er behauptete sogar, er wisse nicht, wann sie eingetreten sei:

"Ich weiß nicht, wer - oder was - die Frage stellte. Ich weiß nicht, wann sie gestellt wurde. Ich weiß nicht, ob ich antwortete. Aber einmal antwortete ich ja zu jemandem - oder zu etwas. Von dieser Stunde her rührt die Gewissheit, daß das Dasein sinnvoll ist und daß darum mein Leben, in Unterwerfung, ein Ziel hat" (196).

Ein unzweideutiges Indiz für eine solche bejahende Antwort findet sich zum Jahresbeginn 1953, wo er den seit 1950 jeweils zu Neujahr zitierten Vers "bald naht die Nacht …" nun mit den Worten ergänzte: "Dem Vergangenen: Dank, dem Kommenden: Ja!" (105)

Dieser Notiz gehen einige Aufzeichnungen in den Jahren 1951 und 1952 voraus, die sich dadurch auszeichnen, daß der Verfasser sich dabei nicht nur mehrfach zitiert, sondern daß er diese Stellen zusätzlich als (Selbst-)Zitat kennzeichnete. In diesen Passagen beschrieb er jeweils einen Prozeß des Übergangs, eine radikale Veränderung des Subjekts und seiner Befindlichkeit, welche an manchen Stellen mit dem Prozeß des Sterbens verglichen und sogar als wirklicher Tod gedeutet wird. Er gebrauchte dabei die Formel von der "Grenze des Unerhörten", um das Ende als einen Neubeginn bislang unbekannter Möglichkeiten, als einen Akt der Befreiung zu beschreiben:

"Jetzt. Da ich die Furcht überwunden - vor den anderen, vor mir, vor dem Dunkel darunter: an der Grenze des Unerhörten: Hier endet das Bekannte. Aber vom Jenseits her erfüllt etwas mein Wesen mit seines Ursprungs Möglichkeit. Hier wird Begehren zu Offenheit gereinigt: jedes Handeln Vorbereitung, jede Wahl ein Ja dem Unbekannten. Durch die Pflichten des Oberflächenlebens gehindert, mich über die Tiefe zu beugen, aber in ihnen langsam dazu gerüstet, formend in das Chaos niederzusteigen, aus dem der Duft der weißen Anemonen das Versprechen einer neuen Zusammengehörigkeit trägt. An der Grenze-" (95).

In der zweiten Passage mit dem eigens markierten Zitat "An der Grenze des Unerhörten" knüpfte Dag Hammarskjöld an eine literarische Reminiszenz an, nämlich an die Schilderung des Todes der Hauptfigur Jim in Joseph Conrads Roman "Lord Jim" (1900), und gab ihr eine präzise und eigenwillige Deutung, indem er Jim freiwillig den Tod als Sühne für die verheerenden Folgen seiner Trägheit und seines mangelnden Mutes auf sich nehmen läßt:

"'An der Grenze des Unerhörten-.' Das Unerhörte - vielleicht ganz einfach Lord Jims letzte Begegnung mit Doramin, wo er zum absoluten Mut gelangt und zur absoluten Demut in absoluter Treue zu sich selbst. Mit einem lebendigen Schuldgefühl, aber gleichzeitig im Bewußtsein, daß er, soweit dies im Leben möglich ist, seine Schuld bezahlte - durch das, was er für jene tat, die ihm jetzt das Leben abverlangen. Ruhig und glücklich. Wie bei einer einsamen Wanderung am Meeresufer" (98).

Läßt Joseph Conrad in seinem Roman offen, ob Jims freiwilliger Opfertod um eines Ideals willen zu loben oder zu tadeln, als passives Schicksal oder als aktives Handeln zu verstehen sei, akzentuiert Dag Hammarskjöld das Moment des Lebensopfers als Sühne für schuldhafte Taten und beschreibt Jims Gemütsverfassung im Augenblick des Sterbens als Harmonie zwischen realem Ich und Ich-Ideal. Dieses Bild eines in absoluter Ruhe sich selbst gewissen Subjektes destruierte der Verfasser kurz danach in einem dritten, mit demselben Zitat markierten Eintrag, wo er die Emotionen eines Tauchers evozierte, der sich in unbekannte Gewässer zu bewegen hat:

"'An der Grenze des Unerhörten.' Des Tieftauchens Consummatio bewusst - und ängstlich, aus Instinkt, Erfahrung, Erziehung, 'Rücksicht', den Kopf unter Wasser zu bekommen. Unwissend sogar, wie das geschehen sollte!" (100)

Die im zweiten Text zum Ausdruck gebrachte Position, daß das Ringen um die eigene Integrität als Preis den Verzicht auf das eigene Leben bedeuten und daß dies als sinnvoll erfahren werden kann, wird nicht aufgegeben. Gleichzeitig bringt das Bild von den Ängsten eines ertrinkenden Menschen klar die Dramatik der dabei sich meldenden Zweifel zum Ausdruck. Die Technik des "Selbstzitates" machte es Dag Hammarskjöld möglich, widersprechende Erfahrungen so miteinander zu verknüpfen, daß sie in ihrer Verflechtung wahrgenommen werden können.

"Der Ariadnefaden im Lebenslabyrinth"

Dag Hammarskjöld gebrauchte in einer Notiz von Pfingsten 1961 das Bild vom "Ariadnefaden der Antwort", der ihn zur Einsicht geführt hat, "dass der Preis für den Lebenseinsatz Schmähung und dass tiefste Erniedrigung die Erhöhung bedeutet, die dem Menschen möglich ist" (196). Bemerkenswert ist, daß er von einer Antwort spricht; daß er damit seine Antwort meinte, ergibt sich aus der einleitenden Passage dieses Eintrages:

"Ich weiß nicht, wer - oder was - die Frage stellte. Ich weiß nicht, wann sie gestellt wurde. Ich weiß nicht, ob ich antwortete. Aber einmal antwortete ich ja zu jemandem - oder zu etwas." (196)

In der Abfolge seiner Entscheidungen, die er als Mensch und als UN-Generalsekretär gefällt hat, vermochte er einen Weg zu erkennen, Integrität, Pflichterfüllung und Sinnerfahrung im Einklang wahrzunehmen. Dafür verwendete er das Bild vom "Ariadnefaden" und griff damit auf eine Formulierung zurück, die er 1955 zum ersten Mal verwendet hatte:

"Früher war der Tod immer mit dabei. Heute ist er Tischkamerad: ich muss Freund mit ihm werden. In diesem intuitiven 'Wiederfinden', das zum Ariadnefaden meines Lebens wurde - Schritt für Schritt, Tag für Tag-, ist nun das Ende ebenso greifbar, wie die geahnte Pflicht von morgen" (118).

Dieser Eintrag verbindet zwei für viele Texte Dag Hammarskjölds eigentümliche Merkmale: Der Verfasser formulierte im Schlußsatz eine Einsicht und verband sie mit einer Beschreibung des Weges, auf dem sie gewonnen worden ist. Die Notiz ist weniger ein Resümee als ein Anstoß zur Reflexion und zum Handeln.

Dieses Verfahren ist auch für die Amtsführung als UN-Generalsekretär bezeichnend. Dag Hammerskjöld war es wichtig, Unabhängigkeit und Neutralität des Generalsekretärs gegenüber den einzelnen UN-Mitgliedern, vor allem gegenüber den im UN-Sicherheitsrat vertretenen Großmächten, zu bewahren. Aus diesem Grund widerstand er der öffentlich mit aller Entschiedenheit während der UN-Vollversammlung 1960 vorgetragenen Aufforderung von Nikita Chruschtschow, sein Amt niederzulegen. Diese Position war bestimmt durch seine Haltung gegenüber dem Völkerrecht und dem Recht überhaupt: Das Recht stellte für ihn die einzige "Waffe" dar, welche den kleinen und ökonomisch schwachen Staaten zur Verfügung steht - wie es auch das einzige Instrument für einen gerechten Interessensausgleich darstellt10. In diesem Sinne interpretierte Dag Hammarskjöld die für den UN-Generalsekretär einschlägigen Artikel der UN-Charta, wobei er sein Amt gleichzeitig als Motor für eine Weiterentwicklung des Völkerrechts verstand und einsetzte11.

Wie sehr er sich mit dieser Aufgabe identifizierte, schlug sich in einer kurzen Notiz des Jahres 1957 nieder:

"Für einen, dessen Aufgabe so offenkundig das Unerhörte spiegelt in menschlicher Möglichkeit und Pflicht, gibt es keine Entschuldigung, wenn er das Gefühl, 'berufen zu sein' verliert. Aber in diesem Gefühl hat alles, was er vermag, einen Sinn, nichts einen Preis. Darum: wenn er klagt, klagt er an - sich selbst" (157).

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