Verlust des Sakralen?Liturgie und Kultur

Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils wird häufig mit dem Schlagwort "Verlust des Sakralen" charakterisiert und kritisiert. Hans Maier, zuletzt Inhaber des Romano-Guardini-Lehrstuhls für christliche Weltanschauung an der Universität München, fragt nach der Berechtigung dieses Vorwurfs und gibt Hinweise für ein kreatives Verhältnis von Liturgie und Kunst.

Die Liturgiereform des 20. Jahrhunderts war die größte in der Geschichte der katholischen Kirche. An Umfang und Wirkung übertraf sie noch die Tridentinische Reform im 16. Jahrhundert. Nicht nur die Form der Messe wurde neu gestaltet, auch die Grundordnungen des Kirchenjahrs und des Kalenders wurden verändert, ebenso das Stundengebet, die Sakramente, die Segnungen und Pontifikalriten. Der Kirchenmusik wurde eine eigene Instruktion gewidmet. Liturgien für besondere Anlässe und im größeren Rahmen (Eucharistische Kongresse, Heiliges Jahr) wurden entworfen - ihre Anstöße wirkten bis in die Gottesdienste bei den Papstreisen und den Weltjugendtagen des 21. Jahrhunderts hinein.

Die Reform

Die Liturgiereform vollzog sich nicht auf einem Schlag. Die neuen Formen wurden stufenweise eingeführt. Drei (ineinandergreifende) Phasen lassen sich unterscheiden: Zuerst schuf das Zweite Vatikanische Konzil mit seiner Liturgiekonstitution "Sacrosanctum Concilium" (SC) das unentbehrliche Fundament für die Reform - es war das erste Dokument überhaupt, das die Versammlung am 4. Dezember 1963 verabschiedete, mit großer Mehrheit und mit nur wenigen Gegenstimmen.

Es folgte die Zeit der Umsetzungen der Liturgiereform auf der Ebene der Diözesen und der nationalen Bischofskonferenzen - aber auch durch viele Initiativen von einzelnen, Gruppen und Gemeinden - in den 60er Jahren. Dabei zeichneten sich in den einzelnen Ländern divergierende Entwicklungen ab. Es war eine Zeit der Experimente; Neues wurde erprobt und Altes verworfen. Die meisten unwiderruflichen Änderungen der liturgischen Praxis vollzogen sich in dieser Zeit.

Endlich entwickelte sich - parallel dazu - die systematische, zentralisierte Weiterführung der Liturgiereform durch den Papst und durch päpstliche Instanzen: konkret durch Papst Paul VI. und das von ihm im Januar 1964 berufene "Consilium ad exsequendam Constitutionem de sacra Liturgia", das 1969 in der Gottesdienst-Kongregation aufging. Insgesamt konzentrierte sich die Reformzeit auf die 60er und 70er Jahre - mit einer langen Vorgeschichte, die mit der liturgischen Bewegung des 19. Jahrhunderts und den Reformen der drei Pius-Päpste des 20. Jahrhundertsbegann, und einer bald ebenso langen Zeit der Nachwirkungen, Weiterführungen, Umgestaltungen.

Im Unterschied zur Tridentinischen Reform, die ältere Liturgien einzelner Diözesen und Orden weiter gelten ließ, soweit sie mehr als 200 Jahre alt waren, nahm das neue Römische Meßbuch von Anfang an universelle und ausschließliche Geltung für sich in Anspruch. Papst Paul VI. setzte mit seiner Apostolischen Konstitution "Missale Romanum" (1969) das alte Römische Meßbuch Pius' V. von 1570 außer Kraft; an seine Stelle trat das neue, von ihm persönlich mitgestaltete <em, das am 26. März 1970 veröffentlicht wurde und fortan das verbindliche Meßbuch der Kirche des Römischen Ritus bilden sollte. Die ausschließliche Geltung der neuen Meßordnung wurde zwar in der Folgezeit immer wieder durch einzelne Indulte durchbrochen - angefangen vom spektakulären Indult für England und Wales vom 5. November 1971, dem sogenannten "Agatha-Christie-Indult", das auf eine Petition britischer Musiker, Schriftsteller und Künstler an den Heiligen Stuhl zurückging, bis hin zu der Grundsatzentscheidung Papst Johannes Pauls II. im Jahr 1984, die mit Rücksicht auf die "heimkehrwilligen" Lefebvre-Anhänger, die späteren Petrusbrüder, die Verwendung des alten Meßformulars unter bestimmten Bedingungen wieder zuließ.</em

Doch führten solche Rücksichtnahmen nie zu einer Gleichstellung der alten mit der neuen Form; auch in der bis heute am weitesten gehenden Annäherung der päpstlichen Leitung an die frühere Gestalt des Römischen Ritus, dem Motu proprio "Summorum Pontificum" Papst Benedikts XVI. vom 7. Juli 2007, wird an dem Unterschied von "ordentlicher" und "außerordentlicher" Form ausdrücklich festgehalten.

Positives und Negatives

Fand schon die Liturgiekonstitution eine überwältigende Mehrheit bei den Konzilsvätern, so wurden die liturgischen Reformen auch beim gläubigen Volk ganz überwiegend freundlich, an vielen Orten sogar begeistert aufgenommen. Das galt vor allem für die Ursprungsländer der liturgischen Bewegung: Frankreich, England, Irland, Deutschland, Österreich, Belgien, Holland, Luxemburg. Bei den im einzelnen unterschiedlichen Reformansätzen wuchs das Gefühl, daß Liturgie ein Dienst war, der das ganze Volk und nicht nur die Kleriker am Altar einbezog, ein Gefühl auch dafür, daß die verschiedenen Teile der Messe eine Einheit bildeten - und daß es, richtig verstanden, darauf ankam, nicht in der Messe zu beten, sondern die Messe zu beten - ein bekanntes, Papst Pius X. zugeschriebenes, von Romano Guardini vielfältig gebrauchtes und popularisiertes Wort.

In dieser Sicht erschienen die Liturgiereformen des Zweiten Vatikanums in vielen europäischen Ländern nicht als ein gänzlich neuer Anfang, sondern als Weiterführung und Vollendung einer längst in Gang befindlichen Bewegung. Das erklärt den Erfolg, den die Neuerungen an vielen Orten - vor allem auch in Deutschland - erzielten. In kurzer Zeit erreichte die Entfaltung des Neuen einen Punkt, von dem es keine Rückkehr gab.

Älteren Betrachtern, die noch die vorkonziliare Zeit erlebt haben, zeigte die erneuerte Liturgie ein anderes Gesicht: volksnäher, verständlicher, lebendiger, mit Christus nicht in der Ferne, sondern in der Mitte der Gemeinde, mit einem Gott, der in den Heiligen Schriften zu seinem Volk sprach - das ihm wiederum mit dem Confiteor, dem Glaubensbekenntnis, den Fürbitten, dem Vaterunser antwortete. Man erlebte Gottesdienste in der Volkssprache, die Konzelebration mehrerer Priester, freistehende Altäre, eine veränderte Stellung des Priesters am Altar, der nun sein Gesicht zur Gemeinde hinkehrte, Kommunionempfang unter beiderlei Gestalten, die Handkommunion - und erheblich vermehrte Lesungen aus dem Neuen, aber vor allem aus dem Alten Testament.

Die erneuerte Liturgie festigte sich in 40 Jahren, sie gewann Stabilität und Dignität. Sie wurde für viele, ja für die meisten, etwas ganz Selbstverständliches. Offenbar hatte die erneuerte Liturgie mit dem Zentralbegriff der "tätigen Teilnahme" einen Nerv getroffen. Sie brachte das Gottesvolk aus Priestern und Laien, Männern und Frauen, Alten und Jungen, Lektoren, Kantoren, Organisten, Sängern, Ministranten, Kommunionhelfern in einer gemeinsamen Bewegung zusammen, so daß alle spürten: Was hier gefeiert wurde, der Gottesdienst, die Eucharistie, ging sie an, war "ihre eigene Sache".

Doch von Anfang an gab es auch Gegenstimmen. Viele empfanden die neu gestaltete Liturgie nicht als einen Gewinn, sondern als einen Verlust. In der Tat war in den bewegten, von Experimentierlust und oft von Exzentrik bestimmten 60er Jahren bei der Aneignung des Konzils auch manches verlorengegangen, was lange Zeit als wichtiges, ja unentbehrliches Element der Eucharistiefeier betrachtet worden war. Man begann abzuwägen.

Die Kritik verdichtete sich in dem Vorwurf, die Liturgiereform habe zu einer "Entsakralisierung" des Gottesdienstes geführt. Alles Geheimnisvolle und Mystische sei verschwunden. Vor lauter Bewegung gebe es keine Ruhe, vor lauter Reden keine Stille mehr. Die umgangssprachliche Direktheit, der Verlust des Lateinischen habe den meditativen Abstand zu den liturgischen Texten zerstört, habe das Charisma der Liturgie alltäglich gemacht und banalisiert - so lautete ein oft formulierter Vorwurf. Vielfach verband sich mit der religiösen auch eine ästhetische Kritik - so wollte schon der Psychoanalytiker Alfred Lorenzer (1922-2002) in seinem Buch "Das Konzil der Buchhalter" (1981) in der "neuen Messe" nur noch das dürre Klappern geistlicher Exerzierübungen hören. Vollends trieb Martin Mosebach in seiner Streitschrift "Die Häresie der Formlosigkeit" (2002) die religiös-ästhetische Kritik auf die Spitze: Er sah im neuen Meßbuch einen "Angriff auf die Göttliche Liturgie", in seiner Einführung durch Paul VI. einen "Gewaltakt", im Papst einen "Tyrannen". Vielfach wurden die alten Formen nostalgisch verklärt. Zu Unrecht, wie ich meine. Gab es in der vorkonziliaren Zeit neben echter Frömmigkeit nicht auch Beliebigkeit, Routine, Gleichgültigkeit? Ich empfinde ein Unbehagen, wenn heute bei der außerordentlichen Form der Meßfeier die stille Einzelmesse ohne Volk wieder zugelassen ist.

Entsakralisierung?

Aber nun die zentrale Frage: Verlust des Sakralen - ist dieser Vorwurf berechtigt? Um einer Antwort näherzukommen, will ich zunächst zwei Vorfragen stellen. Die erste, grundsätzliche: Was hat das Konzil mit seiner Liturgiereform gewollt? Trafen die zahlreichen Umsetzungen und Konkretisierungen den Willen der Versamm­lung - oder verfehlten, ja verfälschten sie ihn? Waren Papst Paul VI. und sein Consilium getreue Ausführende der in der Liturgiekonstitution umrissenen Reform - oder verfolgten sie willkürlich eigene, darüber hinausgehende Ziele? Und die zweite Frage: Welche Wirkungen hat die Reform bei den Künsten ausgelöst, die nach alter Tradition die Liturgie umgeben und oft eine Symbiose mit ihr bilden? Gerade die Künste - Architektur, bildende Kunst, Poesie, Musik, Theater - verleihen ja dem liturgischen Geschehen etwas Besonderes - jenen Hauch von Feierlichkeit und Sakralität, den viele Kritiker heute an der neu gestalteten Messe vermissen.

Die "Konstitution über die heilige Liturgie" ist "ein Gesetz auf Dauer, nicht ein bloßes Dekret zur Entscheidung augenblicklicher Fragen" (Josef Andreas Jungmann SJ). Sie zielt auf eine "Erneuerung und Pflege" der Liturgie (SC 1). Erneuerung: Das heißt, daß auch grundlegend Neues ins Auge gefaßt wird - nicht nur die Fortschreibung des Alten. Schon mit der Vervielfachung der alt- und neutestamentlichen Lesungen (SC 51), mit der vorsichtigen, aber doch dezidierten Öffnung zur Muttersprache (SC 36, 54) und mit der ebenso kühnen wie folgenreichen Zulassung von völkereigenen Initiationselementen in den Missionsländern (SC 65) hat das Konzil neue, bis dahin nicht begangene Wege beschritten.

Sucht man nach den leitenden Tendenzen der Reform, so stößt man auf das nicht weniger als 13 mal erwähnte Programmwort der "participatio actuosa", der tätigen Teilnahme aller an der Liturgie. Sie ist das Formalprinzip der liturgischen Erneuerung, das durch die ganze Konstitution hindurchgeht und das auch anderen liturgischen Reformimpulsen "eine eigene Dynamik" (Winfried Haunerland) verleiht. Nicht minder wichtig ist, was im zweiten Kapitel der Konstitution über die richtige Haltung der Gläubigen zur Eucharistie steht. Sie sollen "diesem Geheimnis des Glaubens nicht wie Außenstehende und stumme Zuschauer ("extranei vel muti spectatores") beiwohnen; sie sollen vielmehr durch die Riten und Gebete dieses Mysterium wohl verstehen lernen ("id bene intelligentes") und so die heilige Handlung bewußt, fromm und tätig mitfeiern ("conscie, pie et actuose participent"), sich durch das Wort Gottes formen lassen, am Tisch des Herrenleibes Stärkung finden. So sollen sie durch Christus, den Mittler, von Tag zu Tag zu immer vollerer Einheit mit Gott und untereinander gelangen, damit schließlich Gott alles in allem sei" (SC 48).

Mit diesen Worten ist nicht nur der Buchstabe, sondern auch der Geist der Liturgiereform (ja des gesamten Konzils) getroffen. Es geht bei der Feier der Eucharistie um ein heiliges Geheimnis - jedoch um ein Geheimnis, das nicht stumm bewundert, sondern verstanden werden will. Die Eucharistie des römischen Kultes vollzieht sich nicht im Geheimen, in einem esoterischen Bezirk, sie ist nicht nur wenigen "Wissenden" und "Eingeweihten" zugänglich und vorbehalten. Sie ist ein "heiligöffentlich Geheimnis" (Goethe). Christentum ist keine Mysterienreligion. Vielmehr gelangt man tiefer in die göttlichen Geheimnisse hinein, indem man sie verstehen lernt. Und dieses Bemühen ist kein isoliert-persönliches Suchen und Erkunden, es vollzieht sich in der Gemeinschaft mit anderen, und es erreicht seinen Höhepunkt in der Feier der Eucharistie in der Gemeinde.

Ich meine nicht, daß sich Papst Paul VI. bei der Festlegung des neuen Meßformulars von diesen Grundsätzen entfernt hat. Man muß würdigen, daß der Papst, als er das neue Missale schuf, unter sachlichem und zeitlichem Druck stand: Nach Jahren der Unsicherheit und des Schwankens mußten klare Verhältnisse geschaffen werden. Von tyrannischer Willkür kann keine Rede sein; der Papst vollzog mit dem neuen Meßbuch wissentlich und willentlich den Auftrag der Konzilsväter.

Daß er einig ging mit den Intentionen der Reform, daß er sie sich persönlich zu eigen machte, erkennt man am deutlichsten an der Neufassung der Karfreitagsbitten. Hier ist bis in Einzelformulierungen hinein seine persönliche Handschrift sichtbar. Man findet in diesen Sätzen "das Konzil in der Nußschale".

Nachdem die Konzilsväter in "Nostra aetate" (NA) eine neue positive Sicht auf die nichtchristlichen Religionen entwickelt hatten, waren die alten Sprechweisen bezüglich der Juden, Nichtkatholiken, Nichtchristen - in denen es um Befreiung von "Verblendung", von "Götzendienst", "Irrtum" und "Bosheit" ging - nicht mehr brauchbar. Neue Sprechweisen mußten gefunden werden. Ich finde, daß Paul VI. dieses Problem souverän gelöst hat. Früher hieß es zum Beispiel im Gebet für die "ungläubigen Juden" (pro perfidis Judaeis): "Gott, unser Herr, möge den Schleier von ihren Herzen wegnehmen, auf daß auch sie unsern Herrn Jesus Christus erkennen." Jetzt heißt es: "Laßt uns auch beten für die Juden, zu denen Gott, unser Herr, zuerst gesprochen hat: Er bewahre sie in der Treue zu seinem Bund und in der Liebe zu seinem Namen, damit sie das Ziel erreichen, zu dem sein Ratschluß sie führen will." Zwischen den beiden Gebeten liegen Welten: Im Wort "Schleier" wirkt das Bild der blinden, der verblendeten Synagoge nach, die Vorstellung, daß Juden nur als Getaufte zur Fülle des Heils gelangen könnten. Die neugefundene Formulierung dagegen erinnert an die vom Konzil erneuerte, von den Päpsten nach dem Konzil wiederholt betonte Fortgeltung des Ersten Bundes.

Und die zweite Frage: Welche Wirkungen haben diese Neujustierungen, diese Veränderungen der Liturgie wie auch des kirchlichen Welt- und Selbstverständnisses bei den Künsten ausgelöst? Das Bild ist nicht einheitlich. Die Lage ist bei den einzelnen Künsten sehr verschieden. Bis heute befinden sich die Dinge in einem lebhaften Fluß.

Vielfach verloren die Kirchen die dominierende Linearität, die Gespanntheit nach vorn; sie wurden zentraler, mittelpunktbestimmter, quadratischer, runder. Viele versuchten, die Gemeinde nachzubilden, die sich um den Altar versammelte - manchmal in einer unmittelbaren Rundum-Anordnung der Kirchenbänke. Im Inneren wurden Hierarchien abgebaut, Bischofsthrone wurden abgesenkt, steile Erhöhungen der Chöre vermieden, eine vergleichbare Augenhöhe mit dem Zelebranten gesucht. Hochaltäre und Kommunionbänke verschwanden vielfach - oder wurden bei neuen Kirchen gar nicht erst gebaut. Einzig im Dialog zwischen Priestern und Lektoren im Chor und der Gemeinde im Kirchenraum blieb die alte Linearität bestehen, verstärkte sich sogar bisweilen zum frontalen Gegenüber. Der Ambo trat an die Stelle der Kanzel. Zum bleibenden architektonischen Symbol der Liturgiereform wurde der freistehende Altar - nunmehr meist auch der einzige in der Kirche; denn die Pluralität der Altäre gehörte jetzt - mitsamt den alten Einzel- und "Winkelmessen" - der Vergangenheit an.

Schwieriger zu greifen und zu beschreiben ist die Veränderung der Bilderwelt. Es fehlen detaillierte Untersuchungen über die nachkonziliaren Entwicklungen in den einzelnen Ländern. In den deutschsprachigen Ländern ist das Spektrum breit - es reicht von der Ablehnung unkonventioneller Bilder durch die jetzt selbständiger, "demokratischer" entscheidenden Gemeinden - vieldiskutiertes Beispiel: das auf dem Kopf stehende Abendmahl von Georg Baselitz - bis zu gelungenen Kooperationen mit zeitgenössischen Malern, Bildhauern, Glaskünstlern - von Georg Meistermann und Herbert Falken bis zu Gerhard Richter und Neo Rauch. Das Andachtsbild alter Art tat sich seit längerem schwer in modernen Kirchen. Oft zogen sich Bilder im Zeitalter des Informel auf die reine Form als Chiffre der Transzendenz zurück. Aber es gibt auch Gegenbeispiele, so die von Emil Wachter mit großen Bildprogrammen durchzogenen Kirchen in Ettlingen oder an der Autobahn bei Baden-Baden - oder die erstaunlich erfolgreichen großformatigen Bilder von Sieger Köder.

Am heftigsten war der Zusammenstoß bei der Musik. Er kam um so überraschender, als die Musik der Liturgie traditionell am nächsten stand (deshalb ist ihr ja auch in der Liturgiekonstitution ein eigenes Kapitel gewidmet!). Just in der Liturgie hatte sich ja aus der gehobenen Sprechweise und der Kantillation der Choral - und später aus dem gemeinsamen Singen in Klöstern die Mehrstimmigkeit entwickelte. Über Jahrhunderte war die Feier der Eucharistie von Musik begleitet, ja förmlich in Musik getaucht worden. Nun aber fühlten sich die Musiker plötzlich enterbt und bloßgestellt, da ihnen das Konzil ihr Fundament - die lateinische Messe - entzogen zu haben schien.

Hatte das Konzil zuviel gewollt? Hatte es Forderungen erhoben, die nicht miteinander vereinbar waren, die sich gegenseitig relativierten, ja aufhoben? In der Tat ist das Musikkapitel der Liturgiekonstitution in sich nicht konsistent - man hat das Gefühl, daß man allzu viele Wünsche befriedigen, es allzu vielen, ja allen recht machen wollte. Diejenigen, die dieses Kapitel redigierten, hatten offensichtlich kein Gefühl dafür, daß zwei ihrer wichtigsten Forderungen in einem fundamentalen Gegensatz zueinander standen: die Forderung nämlich, die überlieferte Kirchenmusik, den Thesaurus Musicae, nach besten Kräften zu bewahren und zu pflegen, und die andere Forderung nach der participatio actuosa, der umfassenden Beteiligung aller Gläubigen am liturgischen Geschehen. Um die erste Forderung zu erfüllen, brauchte es geschulte Sänger, Chöre, Kantoren und Organisten. Palestrina, Bach und Bruckner lassen sich nicht mit einem Laienchor - und schon gar nicht mit der singenden Gesamtgemeinde - bewältigen.

Ein solcher Zusammenstoß zwischen neuen liturgischen Orientierungen und musikalischen Traditionen ist in der Geschichte der Kirche freilich nicht neu. Er zeigt nur, daß die Liturgie und die Künste zwar über Jahrhunderte hin in einem förderlichen Verhältnis wechselseitiger Inspiration und Befruchtung standen, daß sie aber in der Geschichte - und gar nicht selten - auch oft in heftiger Konfrontation miteinander lebten. Wir lassen an dieser Stelle die Liturgiereform des 20. Jahrhunderts einen Augenblick beiseite, um grundsätzlich nach dem Verhältnis von Liturgie und Kunst zu fragen.

Liturgie und Künste

Als Ordnung des öffentlichen und gemeinschaftlichen Gottesdienstes der Kirche hat Liturgie verschiedene Aufgaben. Die älteste, ursprünglichste ist die Sorge um die würdige Feier der Eucharistie. Daher enthält die Liturgie nicht nur Texte, sondern auch Handlungsanweisungen. Missale und Stundengebet fügen eine Reihe kanonischer Texte und heiliger Handlungen zusammen, ordnen sie ein in einen zeitlichen Ablauf.

Zwischen der sich ausbildenden Ordnung des Gottesdienstes (Liturgik) und den in ihr teils schon enthaltenen, teils neu einströmenden Künsten (Sprache, Gesang, Architektur, Malerei, Skulptur) entwickelte sich eine Wechselwirkung. Liturgische Bücher - so muß man sich das Verhältnis vorstellen - verhalten sich zu kirchlichen Ausdrucksformen wie die Regeln der Ästhetik zu den Künsten. Die Regeln geben eine Ordnung vor, sie leiten die Phantasie an, sie reizen zum Ausloten von Spielräumen - sie begrenzen aber auch eine allzu weit gehende und ungezügelte Expansion. Die Künste ihrerseits finden Halt und Orientierung an diesem Regelwerk, sie übernehmen seine Einteilungen und Gliederungen und nützen die angesammelten Topoi, Figuren, Muster als Apparatus - zu deutsch als "Vorrat" - für neue Erfindungen und Gestalten. Zugleich aber drängen sie nach einiger Zeit fast regelmäßig über die gegebenen Ordnungen hinaus und entwickeln eine Tendenz, selbständige Kunstgebilde eigenen Rechts zu werden - soweit nicht die vom Regelwerk ausgehende "klassische Dämpfung" das verhindert oder zumindest erschwert.

In den Kirchen des Ostens ist diese Dialektik begrenzt: Dort nimmt die Kunst sich selbst zurück, sie verzichtet weitgehend auf Entwicklung, Expansion, Verselbständigung. Die Bildkunst sucht nicht so sehr das Neue als vielmehr das Immer-Gleiche - so in der Ikonenmalerei. Auch die Musik verzichtet im Osten nach altchristlicher Art auf Instrumente und stellt sich ganz in den Dienst des Wortes. In östlichen Liturgien dominiert die Einstimmigkeit; die spät aus Italien übernommene Mehrstimmigkeit bleibt formelhaft. Dafür hat die Orthodoxie jedoch bis heute keine Schwierigkeiten mit der participatio actuosa, der tätigen Teilnahme aller Gläubigen - sie ist in den östlichen Liturgien das Selbstverständlichste von der Welt. Man muß als "Westler", um das zu spüren und nachzuempfinden, nur einmal an einer Beerdigung des östlichen Ritus teilgenommen haben, bei der von Anfang bis zum Ende, von der Aussegnung bis zum Grab, wechselweise Responsorien zwischen Volk und Priester hin- und hergehen.

Im lateinischen Westen dagegen ist sowohl die Liturgik strenger und fordernder - wie auch die Kunst eigenwilliger und expansiver. Verglichen mit dem Osten ist die gesamte "liturgische Kunst" gekennzeichnet durch stürmische Innovationen. Vor allem die Musik erlebt in der Mehrstimmigkeit einen Quantensprung - autonome Kunstgebilde entwickeln sich, die eigenen inneren Gesetzen folgen und sich - schon aufgrund wachsender Länge und Komplexität - vom liturgischen Geschehen immer mehr ablösen.

Werke wie die "h-moll-Messe", die "Missa solemnis", die geistlichen Werke von Hector Berlioz, Franz Liszt, Anton Bruckner, Olivier Messiaen - oder im Bildlichen Michelangelos Malerei in der Sixtinischen Kapelle - scheinen oft die Gefüge von Liturgie und Kirchenraum zu sprengen. Sie ordnen sich ins Gewohnte, Überlieferte schwer ein. Aber man muß sich einen Augenblick vorstellen, wir wären ohne solche Werke - dann fehlte uns nicht nur die Einsicht in das, "was der Mensch vermag" (Goethe), wir wüßten auch nicht, mit welch ungeheurem, nie endgültig zu bestimmenden Inhalt sich die Liturgie als Gotteslob zu füllen vermag. Beides ist nicht ohne weiteres ineinander auflösbar: die Existenz zeitüberdauernder Formen und der unkalkulierbare Einbruch des Geistes, die kirchenamtliche Struktur und das dem eigenen Gesetz gehorchende Genie. Harmlos und unriskant ist dieser Kampf nicht. Karl Lehmann hat ihn in einer theologischen Betrachtung zur modernen Kunst, vorgetragen in Berlin 1995, zu Recht mit dem Kampf Jakobs mit dem Engel verglichen:

"Der Mensch darf als Subjekt und in seiner relativen Autonomie mit Gott ringen. Er segnet ihn dennoch und schont ihn. Dies ist die Geburt wahrer Autonomie aus radikalem Glauben."1

Ein Blick auf die Reformation mag in diesem Zusammenhang lehrreich sein: Auch diese Bewegung der Kirchenreform änderte die liturgischen Grundlagen, setzte neben den gregorianischen Choral den Gemeindegesang. Sie geriet damit in ähnliche Probleme, wie wir sie heute in der katholischen Kirche nach dem Konzil beobachten können. Paul Hindemith hat sich 1950 in seiner Rede beim Bachfest in Hamburg skeptisch über die protestantische Liturgik geäußert - er meinte, wenn man die singende Gemeinde zum Grundpfeiler der Kirchenmusik mache, müsse das zu einem "Abtöten musikalischer Formen"2 führen.

Die katholische Welt macht heute ähnliche Erfahrungen mit der volkssprachlichen Differenzierung der Liturgie nach dem Zweiten Vatikanum. In beiden Fällen zeigt sich, daß die Lockerung (oder Änderung) liturgischer Vorgaben zunächst zu Spannungsverlusten, zu einem Absinken der musikalischen Qualitäten führen kann. Zwischen der Reformation und der auf Umwegen neu erreichten Gipfelhöhe geistlicher Musik bei Johann Sebastian Bach und Georg Friedrich Händel liegen immerhin fast zwei Jahrhunderte. Es ist zu hoffen, daß die liturgische Globalisierung im katholischen Bereich (und ihre sehr vorläufige populärmusikalische Ausfüllung in vielen Ländern) nicht ähnliche Höhenverluste zur Folge hat und daß die Gläubigen nicht allzu lange auf kühne, artistische Überschreitungen des liturgischen Regelwerks warten müssen.

Schlußfolgerungen

Was sind die Folgerungen aus unserer - zugegebenermaßen überblickshaften und keineswegs erschöpfenden - Bestandsaufnahme? Welche Wege in die Zukunft gibt es? Mehrere Alternativen zeichnen sich ab, mehrere Fragen stellen sich.

Soll die katholische Kirche künftig die Künstler ermahnen, sich einfach zurückzunehmen, sich demütig - wie in den östlichen Kirchen - in den Dienst der Liturgie zu stellen und unauffällige Gebrauchskunst zu liefern - Bilder, die es immer schon gab, Musik in den Spuren der Tradition? Soll sie gar - zurückschreckend vor der eigenen Kühnheit - die im Zweiten Vatikanum betretenen Wege verlassen und wieder an vergangene Formen anknüpfen: nicht mehr an die neue, sondern an die alte Form der Liturgie? Und soll sie dabei - was ihr heute von manchen angeraten wird - Gebrauch machen von der allenthalben zu spürenden Sehnsucht nach Mystik, Esoterik, Geheimnis?

Ich glaube nicht, daß diese Wege gangbar sind. Was die Hoffnung auf eine "Bekehrung" der Künstler angeht, so bin ich sicher: Die Künstler, zumindest die bedeutenden, werden nicht "demütig" werden, sie werden nicht auf die von ihnen erreichte Handhabung des künstlerischen Materials verzichten. Sie werden sich nicht liturgisch funktionalisieren lassen. Im übrigen hat ihnen Papst Johannes Paul II. in seiner Rede im Herkulessaal in München 1980 ihren Anspruch auf ihren eigenen Weg - ihre "Autonomie" - ausdrücklich zuerkannt. Ein Gerhard Richter wird eben ein Kölner Domfenster nicht in der herkömmlichen Weise herstellen, sondern die Farben und Formen mit dem Computer berechnen - er wird Zeitgenossenschaft bekunden, ohne daß dadurch die Andacht und Sakralität geschmälert wird3.

Eines freilich wird die Kirche den Künstlern sagen dürfen: Die durch die Liturgiereform gegebenen neuen Anstöße und Aufgaben sind von den Künsten noch lange nicht erkannt und aufgegriffen, geschweige denn genutzt und fruchtbar gemacht worden. Warum muß man immer auf das starren, was weggefallen ist, warum kann man nicht das sehen und ergreifen, was neu hinzugekommen ist - die Erweiterung der biblischen Grundlagen der Liturgie, die neue Verklammerung des Neuen Testaments mit dem Alten, neue Formen des Gemeindegesangs, die stärkere Betonung der Responsorien, der Gestik, des heiligen Spiels (dazu rechne ich auch den Friedensgruß)? Der Kirche verbundene Musiker und Komponisten wie mein verstorbener Freund Bertold Hummel (1925-2002) haben immer wieder betont, daß die Beschränkung auf das Nur-Brauchbare in der Kunst auch die Liturgie ärmer macht. Das Zusammenspiel von Kunst und Kirche kann sich nur entwickeln, wenn die Kirche dem Überschwang, den Grenzüberschreitungen der Kunst freien Raum - oder doch wenigstens Platz - läßt.

Vor dem zweiten Weg, dem Rückweg zur "alten Messe", kann ich nur warnen. Gehalt und Ertrag der liturgischen Bewegung würden damit verleugnet, ja rückgängig gemacht. Die Folgen für Kirchenbau und Kirchengestaltung wären unabsehbar. Schon jetzt, bei der Zulassung der "außerordentlichen Form", tauchen Fragen auf: Soll die "neue Messe" am freistehenden Altar gefeiert werden und die "alte" am Hochaltar? Aber es sollte doch nur einen Altar geben - nicht mehr die "vielen Messen", sondern das "eine Opfer" (Karl Rahner SJ). Und wie steht es mit dem kirchlichen Kalender? Mit den Karfreitagsbitten? (Mehrfach habe ich in den letzten Jahren erlebt, daß man in einzelnen Gemeinden die Judenbitte einfach wegließ, aus Sorge, das "falsche Formular" zu gebrauchen!). Denn wie immer man die Liturgiereform im einzelnen einschätzt: Sie hat sich in den letzten 50 Jahren durchgesetzt, sie ist anerkannt, sie bildet ein Fundament, das zu erschüttern töricht wäre.

Endlich sind Kirche und Geistlichkeit zu warnen vor einem Sich-Tragen- oder gar Sich-Treibenlassen von einer modischen Esoterik - vor einer Religiosität, die im rein Erlebnis- und Gefühlshaften bleibt und vor den Zwängen der Alltagswelt in eine emotionale Geborgenheit flüchtet, die sie am besten in geistlichen Räumen zu finden hofft. Dem "glimmenden Docht" des christlichen Glaubens hilft das Wehen dieser neuen "Religiosität" kaum auf - vor allem dann nicht, wenn in ihr der Glaube zu einem undurchdringlichen Mysterium verdunkelt wird. Christentum bedeutet nicht Auslöschung oder Schwächung der Vernunft. Der Glaube verlangt nach Erkenntnis (fides quaerens intellectum) - wie könnten sonst die göttlichen Geheimnisse zum Menschen kommen?

In der neuen Liturgie steckt genug herausfordernde Widerständigkeit, an der sich Künstler abarbeiten können - im Zweifel ein ganzes Leben lang. Noch einmal zitiere ich Bertold Hummel: "Die Kirche muß anspruchsvoll bleiben, sie muß den Streit um die 'Vergeistigung' führen, ohne den sie zu einem 'Ersten Kreis der Hölle' wird."4 Die Kirche muß einen langen Atem haben - im Gegensatz zur schöpferischen Ungeduld des Künstlers. Und beides gleichermaßen braucht es für die Zukunft: Ungeduld und Beharrlichkeit.

Der Text ist die Kurzfassung eines längeren Referats des Autors auf einer Liturgietagung in der Katholischen Akademie in Freiburg im Breisgau im September 2011, dessen Originalfassung im Herbst 2012 in einem Sammelband erscheinen soll.

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