Alltags-Antisemitismus

Zweideutige Judenwitze, antisemitische Stereotype, rassistische Klischees und Anpöbelungen - all das gehört nach wie vor zum Alltag in Deutschland, in oft ebenso unerleuchteten wie skurrilen Mixturen. Lässt sich aus der Geschichte wirklich nicht lernen? Extrem peinlich und auch schwerlich als Dumme-Jungen-Streiche zu verharmlosen: Im August 2013 haben Bischof Friedhelm Hofmann (Würzburg) und Erzbischof Ludwig Schick (Bamberg) zwei Seminaristen entlassen (müssen), die im Bierkeller des Würzburger Priesterseminars KZ-Witze zum Besten gaben und dabei Hitler imitierten. Es tröstet wenig, dass der ermittelnde Oberlandesrichter befand, dass es "kein braunes Netzwerk und keinen braunen Sumpf im Priesterseminar" gebe - Negativ-Schlagzeilen waren garantiert. Was juristisch nicht verboten ist, kann moralisch problematisch sein - erst recht in Deutschland und in Österreich. Beide Nationen tragen nach den Schreckensjahren von 1933 bis 1945 eine besondere Verantwortung.

Zur Erinnerung: Anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome 1938 haben die deutschen und österreichischen Bischöfe mit ihrem gemeinsamen Wort "Die Last der Geschichte annehmen" (1988) auf einen von nationalsozialistischer Ideologie gelenkten Euphemismus hingewiesen und sich von der Vokabel distanziert: "Bald machte das verharmlosende Wort 'Reichskristallnacht' die Runde. Doch jedermann wusste, dass die Novemberpogrome in Wirklichkeit von oben befohlener, aber vor Ort organisierter Straßenterror übelsten Ausmaßes waren." Christen hatten ihren Anteil am Alltags-Antisemitismus - und gerade ihnen ist dieser so sehr verboten wie keiner anderen Religion, wurzelt doch das Christentum im Judentum. Juden sind, mit Friedrich Heer gesprochen, "Gottes erste Liebe".

Päpste seit Pius XI. haben die enge Verbundenheit der Kirche mit dem Judentum hervorgehoben. Geistlich gesehen seien wir als Nachkommen Abrahams alle Semiten, meinte Pius XI. im September 1938. Pius XII. hat - Hochhuth hin oder her - Juden in römische Klöster aufnehmen lassen. Als Apostolischer Delegat in der Türkei hat der spätere Johannes XXIII. Juden vor der Deportation geschützt. Paul VI. war der erste Papst überhaupt, der (im Januar 1964) das Heilige Land besuchte. Johannes Paul II. hat als erster Papst eine Synagoge betreten. Benedikt XVI. war vielleicht wie kein Papst vor ihm theologisch dem Judentum nahe.

Als Bundeskanzlerin Angela Merkel kurz vor der Bundestagswahl das ehemalige Konzentrationslager Dachau besuchte, wurde sie dafür von verschiedenen Seiten kritisiert. "Die Deutschen", hieß es in der Süddeutschen Zeitung vom 22. August 2013, "können streng sein, wenn es um korrektes Gedenken geht. Man kritisiert die Kanzlerin für den Zeitpunkt, an dem sie in das ehemalige Konzentrationslager gefahren ist. Andererseits hat man ihre sieben Vorgänger nie für den Zeitpunkt kritisiert, an dem sie alle nicht nach Dachau gefahren sind." Merkel absolvierte den Termin zwischen zwei Wahlkampfauftritten in Erlangen und Dachau - auf Einladung des 93-jährigen KZ-Überlebenden Max Mannheimer.

Weniger bekannt geworden als die Kritik an der "Sandwich-Visite" sind Merkels Worte danach. Der Journalist Nico Fried fragte sich, wie die Bundeskanzlerin den Spagat zwischen dem Besuch im Konzentrationslager und im Bierzelt schaffen würde. "Einen größeren Kontrast", so Merkel, "kann es kaum geben. Vor wenigen Minuten war ich noch in der Gedenkstätte Dachau, einen Katzensprung von hier", und nun auf einem "Volksfest der Fröhlichkeit und des Lebens", bei dem auch Charlotte Knobloch, die langjährige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, anwesend war. Merkel sprach den Kontrast direkt an: "Auch damals war das KZ mitten unter uns. Wer wollte, konnte damals auch sehen und hören." Warum nur funktioniert das heute, 68 Jahre nach Kriegsende, immer noch nicht?

Vor 75 Jahren brannten in Deutschland, tags darauf in Österreich, Synagogen. Jüdische Geschäfte, Schulen und Wohnungen wurden geplündert und demoliert. Deutsche und Österreicher mosaischen Glaubens waren plötzlich nur mehr "Juden", die angespuckt und getreten, verprügelt und drangsaliert, gefoltert und getötet werden konnten. Sie waren einem aufgehetzten Mob ausgeliefert. Die Geschichtsbücher kennen die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 unter dem Stichwort Reichskristallnacht.

Fünf Jahre vorher, am 10. Mai 1933, hatte es auf dem Berliner Opernplatz (heute: Bebelplatz) und in anderen deutschen Städten nächtens theatralisch inszenierte öffentliche Bücherverbrennungen gegeben. Werke verfemter (nicht nur jüdischer) Autoren - unter ihnen Heinrich Heine, Karl Marx, Sigmund Freud, Alfred Döblin, Erich Kästner, Heinrich und Thomas Mann, Erich Maria Remarque, Arthur Schnitzler, Kurt Tucholsky, Franz Werfel, Carl Zuckmayer oder Nelly Sachs, um nur einige Namen zu nennen -, wurden dabei ins Feuer geworfen: "Wir haben unser Handeln gegen den undeutschen Geist gewendet. Ich übergebe alles Undeutsche dem Feuer!", lautete die zynische Parole von Reichspropagandaminister Joseph Goebbels. Was vorher zum Kanon deutschsprachiger Kultur gehört hatte, galt plötzlich als "Schund".

Verbrannte Bücher, verbrannte Menschen: Diese Schande wird eine Nation, die Schiller und Goethe hervorgebracht hat, nie mehr los - kein Ablaufdatum, keine Verjährung. "Die Erinnerung an die Tage von 1938 ist keine vergeudete Nostalgie. Denn auch heute müssen wir uns fragen, ob nicht das Wort, das Gotteswort aufs Neue verbrannt wird", sagte der Wiener Alterzbischof, Kardinal Franz König (1905-2004), am 9. November 1999 in der Wiener Ruprechtskirche aus Anlass der Bedenkwoche "Mechaye Hametim - Der die Toten auferweckt". Auch heute gibt es "Brandstifter". Parodistische Verharmlosungen dürfen deswegen nicht bagatellisiert werden. (Alltags-)Antisemitismus, weder am Stammtisch noch sonst wo, darf nicht zum "guten Ton" gehören. Für Christen schon gar nicht.

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