Blasphemie und die Grenzen der Toleranz

Der Terroranschlag auf die Redaktion der Pariser Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ im Januar dieses Jahres stellt die Frage nach der Toleranz und ihren Grenzen gegenüber religionskritischen bzw. blasphemischen Darstellungen. Stephan Herzberg, Dozent für Philosophie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt am Main, analysiert die juristischen und moralischen Dimensionen der Problematik.

„Toleranz“ kann verstanden werden als eine bestimmte Art von freiwillig eingenommener Haltung eines Subjekts (etwa einer Person, einer Gruppe oder auch eines Staats) gegenüber fremden Überzeugungen oder Praktiken (etwa religiösen, moralischen oder ästhetischen), die dieses Subjekt aus rational nachvollziehbaren Gründen für falsch hält. Das Spezifische dieser Haltung besteht darin, dass der Tolerierende das, was er für falsch hält und was aus seiner Sicht eine bestimmte Reaktion rechtfertigen würde, aus höherrangigen Gründen aushält oder durchträgt1. Toleranz ist also genauer betrachtet eine tätige Haltung2, die den Tolerierenden Kraft kostet und schmerzt: ein Aushalten oder Durchtragen dessen, was ihm eigentlich unerträglich erscheint3.

In einer pluralistischen Gesellschaft wird eine solche Haltung zur Tugend des einzelnen Staatsbürgers: Sie ist unverzichtbar für eine Gesellschaft, die das Faktum einer Pluralität von Personen mit konträren „umfassenden Weltanschauungen“ (comprehensive doctrines), religiöse, philosophische wie auch moralische, als Ergebnis eines selbstbestimmten Vernunftgebrauchs unter dauerhaft freien Institutionen anerkannt hat4. Für den einzelnen religiösen Bürger mit seinem Wahrheitsanspruch bedeutet das allerdings nicht, dass mit der Anerkennung eines solchen weltanschaulichen Dissenses die Fähigkeit des Menschen zur Wahrheitserkenntnis negiert werden müsste: Die Toleranz als soziale Tugend trägt vielmehr den vielfältigen „Bürden der Urteilskraft“ 5 des Menschen Rechnung und ermöglicht ein friedliches Zusammenleben zwischen gleichberechtigten, endlichen Vernunftsubjekten in statu viatoris6.

Wesentlich für den Begriff der Toleranz sind - mit Bezug auf Rainer Forst - folgende Elemente: 1. Ablehnungs-Komponente: Ohne diese müsste man eher von Indifferenz oder Bejahung sprechen. Die Ablehnung muss aber immer auf Gründen basieren, die für andere zumindest verstehbar sind; sonst handelt es sich um ungerechtfertigte Ablehnung oder um Hass7; 2. Akzeptanz-Komponente: Es gibt höherrangige Gründe, die die Ablehnungsgründe „übertrumpfen“ (sie gehören entweder zu derselben Art wie die Ablehnungsgründe oder zu einer anderen) und die ein „Aushalten des Falschen“ rechtfertigen. Die negativen Gründe werden dadurch nicht aufgehoben, die Ablehnung bleibt8; 3. Selbstrelativierung: Der Toleranz Übende hält an seinem Wahrheitsanspruch ohne Abstriche fest, muss sich aber angesichts höherer Gründe (z. B. Respekt vor der Gewissensentscheidung des anderen) ein Stück selbst relativieren. Er muss dem anderen seinen Irrtum, ja sogar seine Sünde „lassen“ und darf nicht versuchen, ihm seine eigenen Überzeugungen aufzuzwingen oder ihn mit Gewalt zu bekehren; 4. Grenzen der Toleranz: Der Bereich des Tolerierbaren liegt zwischen dem der Bejahung und dem der absoluten Zurückweisung der Meinungen oder Praktiken des anderen (z. B. Verletzung der Menschenwürde). Unbegrenzte Toleranz, das heißt Toleranz gegenüber den Intoleranten, ist nicht möglich, da sie sich selbst aufheben würde9.

Blasphemische Äußerungen wie etwa Karikaturen können die Gefühle von Gläubigen verletzen. Sie begegnen dem, was einem Gläubigen heilig, unverfügbar und unantastbar ist, mit Respektlosigkeit. Sind hier, so ist zu fragen, die Grenzen der Toleranz erreicht? Muss der Staat ein solches blasphemisches Verhalten um der Religionsfreiheit willen unter Strafe stellen? Muss er religiöse Bürger vor der Schmähung und Herabwürdigung ihrer Religion schützen? Menschen, die blasphemische Äußerungen tätigen, können sich auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) bzw. der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) berufen.

Gute Gründe, die Meinungsfreiheit einzuschränken, also in ein Grundrecht einzugreifen, gibt es aber aus rechtswissenschaftlicher Sicht nicht: Die freie Religionsausübung des Einzelnen oder einer Religionsgemeinschaft ist durch bloßen Spott nicht gefährdet. Auch kann die Grenze der Meinungsfreiheit, also die Strafwürdigkeit einer Äußerung, nicht in den subjektiven, zufälligen Gefühlen eines anderen, also seiner je besonderen Empfindlichkeit, liegen10. Das Schutzgut muss vielmehr objektiven Charakter haben: Der Gesetzgeber macht die Strafbarkeit einer „Bekenntnisbeschimpfung“ davon abhängig, ob sie dazu geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören (§ 166 StGB). Religionsbeschimpfung ist auch dann strafbar, wenn sie gegen Teile der Bevölkerung oder gegen Einzelne zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert (Volksverhetzung) oder sie in einer Weise beschimpft, dass sie in ihrer Menschenwürde angegriffen sind (§ 130 StGB). Der „öffentliche Friede“, der in beiden Paragrafen genannt wird, ist, so die Gesetzesbegründung, „in der Ausprägung“ zu verstehen, „den er durch den Toleranzgedanken erfahren hat“11. „Toleranz“ bezieht sich hier, so Michael Pawlik, auf den Umgang der Bürger miteinander: Es geht dem Gesetzgeber um die Erhaltung eines Klimas, in dem die Bürger darauf vertrauen können, dass ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen respektiert werden, also um einen Zustand der Rechtssicherheit und des allgemeinen Rechtsvertrauens12.

Mit anderen Worten: Es geht um die Erhaltung eines Klimas, in dem sich die Bürger als gleichberechtigte Teilnehmer am gesellschaftlichen Diskurs respektieren13. Der Staat darf solche Mindeststandards von Toleranz einfordern bzw. er muss sie sogar im Interesse der Aufrechterhaltung der freiheitlichen Ordnung einer pluralistischen Gesellschaft sicherstellen, mehr aber nicht. Anstand, Wertschätzung, Rücksicht gegenüber dem anderen oder auch Ehrfurcht vor dem, was dem anderen heilig ist, schließlich Toleranz im oben skizzierten, anspruchsvollen Sinn einer Tugend sind Sache der Moralität und können nicht rechtlich erzwungen werden14. Der Staat muss - im Sinne des „Böckenförde-Theorems“15 - Moralität voraussetzen, er darf sie aber niemals selbst schaffen wollen.

Die moralische Dimension des Konflikts

So schwer es für den einzelnen Gläubigen auch sein mag, er muss blasphemische Äußerungen tolerieren, solange diese nicht den Tatbestand der Volksverhetzung erfüllen oder für den Einzelnen objektiv ehrabschneidend sind. Er kann vom Staat keinen Schutz vor Schmähungen seiner Religion erwarten. Blasphemische Äußerungen unterhalb dieser Schwelle auszuhalten, ist der Preis unserer Freiheit:

„Wer an der Freiheit teilhat, muss die Zumutungen der praktizierten Freiheit des anderen ertragen. Das ist die ungeschriebene Grundpflicht, ohne deren Einhaltung Grundrechte nicht verwirklicht werden können.“16

Der Christ ist hier vom Evangelium geradezu zur Toleranz verpflichtet. Angesichts des Unkrauts fragen die Knechte ihren Gutsherrn: „Sollen wir gehen und es ausreißen? Er entgegnete: Nein, sonst reißt ihr zusammen mit dem Unkraut auch den Weizen aus. Lasst beides wachsen bis zur Ernte“ (Mt 13, 28-30). Der Christ überlässt das letzte Urteil über Unkraut und Weizen Gott und seinem Gericht und hütet sich vor dem Errichten menschlicher Endgerichte.

Toleranz ist aber nie einseitig: Sie muss aus moralischen Gründen auch von denen, die sich für ihre Schmähungen von Religion auf die Meinungsfreiheit berufen, verlangt werden. Die unverzichtbare Kritik an Fehlformen des Religiösen muss auf die Weise geschehen, dass zum einen der Adressat der Kritik als gleichberechtigter Gesprächspartner ernst genommen wird, das heißt dem gläubigen Menschen darf die Rationalität nicht schlechthin abgesprochen werden, etwa im Namen einer sich selbst absolut setzenden säkularen Vernunft17:

„Die weltanschauliche Neutralität der Staatsgewalt, die gleiche ethische Freiheiten für jeden Bürger garantiert“, so Jürgen Habermas, „ist unvereinbar mit der politischen Verallgemeinerung einer säkularistischen Weltsicht. Säkularisierte Bürger dürfen, soweit sie in ihrer Rolle als Staatsbürger auftreten, weder religiösen Weltbildern grundsätzlich ein Wahrheitspotential absprechen, noch den gläubigen Mitbürgern das Recht bestreiten, in religiöser Sprache Beiträge zu öffentlichen Diskussionen zu machen.“18

Zum anderen muss dem Kritisierten die Möglichkeit zur diskursiven Erwiderung gegeben werden, und es muss aufseiten des Kritisierenden das Interesse an einem ernsthaften, sachlichen Dialog erkennbar sein:

„Dem Recht des Einzelnen auf individuelle Meinungsäußerung“, so Burkhard Josef Berkmann, „steht das Recht der anderen nach Respekt, Pluralismus, Dialog und Wechselseitigkeit gegenüber, mit dem es zu einem Ausgleich gebracht werden muss.“19

Als Beispiel hierfür kann durchaus die Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI. angeführt werden, die Stellungnahmen wie „A Common Word“ und eine Vielzahl von christlich-muslimischen Religionsgesprächen und Dialoginitiativen evozierte.

Dass in blasphemischen Karikaturen der andere als gleichberechtigter Gesprächspartner ernst genommen wird und ein Interesse an einem sachlichen Dialog mit dem anderen besteht, darf in vielen Fällen bezweifelt werden. Blasphemische Karikaturen fungieren meist als Träger einer säkularistischen Weltanschauung, die den religiösen Menschen bewusst vor den Kopf stoßen wollen. Dabei könnten beide Seiten, nicht nur der religiöse Bürger, sondern auch der säkulare, voneinander lernen20, ja: Sie müssen voneinander lernen.

Die säkulare Vernunft bedarf, gerade was den Respekt vor dem Unverfügbaren, dem Heiligen, dem Geheimnis betrifft, durchaus immer wieder der Reinigung: initium sapientiae timor domini (Die Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit: Ps 111,10)21. Blasphemische Karikaturen bewegen sich an der Grenze zwischen moralisch Tolerierbarem und rechtlich Sanktionierbarem: Würden sie auf längere Sicht zum bevorzugten Medium der Religionskritik und der Religionspolemik, könnten sie dazu beitragen, eine grundlegende Voraussetzung für den öffentlichen Diskurs und für die freiheitliche Ordnung zu untergraben, nämlich die, dass sich alle Bürger, gleich welcher Weltanschauung, als gleichberechtigte und ernstzunehmende Teilnehmer wechselseitig geachtet wissen.

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