Warum Christen den Koran lesen sollten

Die Mitte des Islams und seines Offenbarungsverständnisses ist der Koran. Wo über die Situation des Islams in Deutschland diskutiert wird, ist eine bessere Kenntnis des heiligen Buchs der Muslime auch unter Christen wünschenswert, meint Klaus von Stosch, Professor für Systematische Theologie in Paderborn. Er zeigt Wege zu tieferem Verständnis auf.

Der Islam ist derzeit eines der aufregendsten Themen unserer Gesellschaft. Die Frage, wie Europa sich zu ihm stellt, bewegt die Menschen wie kaum ein anderes Thema. Ständig werden Expertinnen und Experten aller möglichen wissenschaftlichen Herkunft befragt, was vom Islam zu halten ist. Ihre Einschätzungen reichen von wohlwollender Aufmerksamkeit bis zu vernichtender Kritik. Nur eines haben nahezu alle Statements gemeinsam: Sie stammen nicht von Theologinnen und Theologen und lassen auch kaum theologische Expertise erkennen.
Um an dieser eigentümlichen Abwesenheit der Theologie im Gespräch über den Islam etwas zu ändern, ist es zuallererst erforderlich, dass theologisch intensiver über den Islam debattiert wird. Diese theologische Diskussion wird zunächst einmal mit dem Koran beginnen müssen. Denn Mitte des Islams und damit auch Mitte seines Offenbarungsanspruchs ist der Koran; er ist aus muslimischer Sicht Urnorm der Wahrheit, Richtschnur für ein gutes Leben und direkte Anrede Gottes an den Menschen. Der Koran wird also der entscheidende Maßstab auch für eine christliche Bewertung des Islams sein, und wenn Christen sich ein Bild vom Islam machen wollen, werden sie nicht daran vorbeikommen, sich mit dem Koran auseinanderzusetzen. Gerade Theologinnen und Theologen sollten das mit viel mehr Aufmerksamkeit tun, als das bisher geschehen ist. Denn der Koran bietet auch für sie einiges zu entdecken.
Im Folgenden will ich vier Gründe nennen, warum Christinnen und Christen den Koran lesen sollten. Natürlich gibt es noch viel mehr Gründe1. Ich beschränke mich auf vier Punkte als erste Auswahl, weil ich gerade bei diesen Punkten meine, dass sie uns noch nicht geläufig genug sind. Zugleich will ich mit ihnen ein paar Hilfestellungen anbieten, wie die Koranlektüre produktiv werden kann. Denn der Koran ist als Text der Spätantike erst einmal ein uns fremder Text, den wir zunächst auch in seiner Fremdheit aushalten sollten. Zwar verarbeitet er viel uns vertrautes Material aus der biblischen Tradition, aber er tut das in einer Weise, die uns heute Verstehensschwierigkeiten bereitet.

Der Koran als gesprochenes Wort

Von der Bibel her sind wir gewohnt, den normativen Kern der Heiligen Schrift in seiner schriftlichen Urfassung zu sehen. Entsprechend verwenden wir alle er denkliche Mühe, um uns die ursprüngliche Fassung der Bibel vor Augen führen zu können. Theologinnen und Theologen lernen etwa Griechisch und Hebräisch, um den ursprünglichen Wortlaut der Schrift lesen und verstehen zu können. Liest man ihnen die Bibel in der Ursprache vor, geraten sie in Verlegenheit und werden schnell um ein schriftliches Exemplar bitten. Das gesprochene Wort in der Ursprache ist ihnen genauso wie theologisch ungebildeten Gläubigen schlicht unverständlich. Erst lesend verstehen wir. Wir wollen sehen, um glauben zu können.
Das passt gut in unsere Zeit, weil uns das gesprochene Wort insgesamt als flüchtig erscheint. Auch in alltäglichen Zusammenhängen steigt die Verbindlichkeit und Normativität eines Wortes, wenn es schriftlich fixiert wird. Verträge und Testamente werden schriftlich beim Notar hinterlegt. Studierende schreiben sich Gedanken aus Vorlesungen auf, um sie dann in verbindlicher Form vor sich zu haben. Am liebsten haben sie alles zum Anschauen vor sich – wenn nicht in einem Youtube-Video, so doch wenigstens in einem Buch. Der Lauf der Geschichte wird anhand von Quellen rekonstruiert, die dann letzte Verlässlichkeit haben, wenn sie uns schriftlich vorliegen. Kurzum, wir leben in einer Zeit, die Verbindlichkeit durch Schriftlichkeit herstellt; Worte, die Anspruch auf Verbindlichkeit haben, sollen schriftlich fixiert werden.
Möglicherweise gab es schon zu Lebzeiten Muhammads erste schriftliche Aufzeichnungen einzelner Verse des Korans. Besonders salafistische Geschichtsschreiber betonen im Anschluss an diese Möglichkeit, dass es schon zu Lebzeiten des Propheten Niederschriften vieler Verse auf Palmblattrispen, Lederstücken, Knochen usw. gab2. An dieser Stelle zeigt sich, wie modernistisch diese vermeintlich traditionellen Gelehrten sind. Denn der Hauptstrom der klassischen muslimischen Tradition ist an schriftlichen Fixierungen des Korans völlig uninteressiert. Er ging ganz selbstverständlich davon aus, dass der Koran ursprünglich in mündlicher Form tradiert wurde. Der Prophet selbst konnte laut der klassischen Überlieferung gar nicht schreiben und war auch in keiner Weise an einem geschriebenen Text interessiert. Auch seine Gefährten und Freunde haben seine Predigt nicht etwa aufgeschrieben, sondern auswendig gelernt und weiter erzählt. In den Gemeinden wurden die Koranverse auswendig rezitiert, und bis heute gilt etwa in traditionellen Sufi- Orden die mündliche Überlieferung des Korans von einem Scheich zum nächsten als authentischer als jede schriftliche Koranversion.
Die mündliche Tradierung des Korans stand im Islam also schon zu Lebzeiten Muhammads immer im Vordergrund und auch nach seinem Tod blieb sie die eigentliche autoritative Quelle. Mit der Koranforscherin Angelika Neuwirth kann man entsprechend sagen, dass in der späten Zeit der Entstehung des Korans die „Mündlichkeit der heiligen Schrift den Rang eines koranischen Glaubensartikels (erhielt) – ein Phänomen, das von keiner anderen Schrift bekannt ist“3 und bleibend den Zugang zum Koran prägen sollte.
Es ist hier nicht der Ort, um im Einzelnen zu rekonstruieren, wie aus den mündlichen Überlieferungen dann eben doch der schriftliche Koran entstanden ist4. Viel mehr geht es mir darum, die Betonung der Mündlichkeit im Rahmen des Zugangs zu normativen Texten als ein erstes Lernfeld zu nennen, von dem wir Christen profitieren können, wenn wir den Koran und die muslimische Tradition auch als Anrede an uns verstehen. Denn leider hören wir Gottes Wort immer weniger und lernen es auch kaum noch auswendig. Ich erinnere mich noch gut, wie glücklich es mich in meiner Jugend gemacht hat, ganze Psalmen auswendig zu lernen und mit ihnen im Herzen wandern zu gehen. Derartige Erfahrungen drohen uns modernen Menschen immer mehr verloren zu gehen.
Dabei ist es ein ungeheurer Reichtum, mit dem Herzen zu lernen, schöne, heilige Texte in sich aufzunehmen. Auch die Bibel empfiehlt uns an prominenter Stelle, Gottes Worte auf unsere Herzen zu schreiben und immer wieder zu wiederholen (Dtn 6,6 f.). Wenn wir diesen Rat beherzigen, werden wir erleben, dass uns seine Worte finden, wenn es uns schlecht geht. Doch auch wenn niemand Geringerer als Paulus sagt, dass der Glaube vom Hören kommt (vgl. Röm 10,17), verlassen wir uns doch immer mehr aufs Sehen und räumen in unseren Herzen dem Hören von Gottes Wort kaum Raum ein. Hier kann die Erinnerung an die orale Übermittlung des Korans ein wichtiges Lernfeld auch für uns Christen sein, um das Wort Gottes wieder mehr zu hören und auswendig zu lernen – gerade wenn wir zugleich die ästhetische Kraft der Koranrezitation in den Blick nehmen, der ich mich im nächsten Schritt zuwenden will.

Der Koran als Oper

Der Koran ist nicht nur ein Hörbuch, in dem der schriftliche Text einfach mündlich vorgetragen wird. Er ist vielmehr ein ästhetisches Ereignis, das man in unserer westlichen Kultur am ehesten mit einer Oper vergleichen kann. Wenn man den Koran liest, ist es so, als ob man lediglich das Libretto einer Oper liest, statt sie zu hören oder wenigstens ihre Partitur kennenzulernen. Entsprechend ist die Muslimen so wichtige Unnachahmlichkeit des Korans (‘i’ğaz al-qur‘ān) traditionell zunächst einmal ästhetisch begründet, wie schon Navid Kermani in seiner bahnbrechenden Dissertation überzeugend gezeigt hat5. Natürlich bedeutet das nicht, dass die Inhalte des Korans gleichgültig sind. Auch in einer Oper oder in einem Gedicht interessiert uns der Inhalt. Aber er erschließt sich uns nur, wenn wir zugleich die ästhetische Form bedenken, in die er gegossen ist. Nur im Einklang von Form und Inhalt erschließt sich also die Bedeutung des Korans.
Für eine christliche Rezeption ist der ästhetische Interpretationszugang zum Koran unter anderem deshalb so spannend, weil er es erlaubt, den koranischen Unbedingtheitsanspruch an einem Moment festzumachen, der sich neutral zu dem verhält, was den christlichen Unbedingtheitsanspruch prägt. Zudem eröffnet eine ästhetische Koranhermeneutik eine Verhältnisbestimmung von Offenbarung und Vernunft, die sich im Einklang mit der islamischen Tradition und zugleich auf der Höhe der Zeit bewegt und die im Rahmen eines dialogisch-kommunikativen Offenbarungsverständnisses rekonstruierbar ist.
Sicher muss man zugeben, dass eine derartige Rekonstruktion des muslimischen Offenbarungsanspruchs in der muslimischen Welt nicht unumstritten ist. Es dominieren hier immer noch instruktionstheoretisch konfigurierte Modelle, die die Offenbarung als wörtliche Kundgabe des Willens Gottes verstehen und jede Form moderner Hermeneutik im Umgang mit dem Koran ablehnen. Wird der Koran in dieser Tradition als wortwörtliche unerschaffene Wahrheit verstanden, die inhaltlich an allen Stellen unfehlbar zutreffende und bedeutsame Sachverhalte darstellt und Handlungsanleitungen gibt, die genau so, wie sie im Koran stehen, auch heute zu befolgen sind, wird man ihm als Christ und als moderner Mensch entschieden widersprechen müssen.
Der hier vorgestellte ästhetische Weg zur Rekonstruktion des muslimischen Offenbarungsanspruchs ist also innerislamisch durchaus umstritten. Zugleich ist es aber so, dass nicht nur wichtige muslimische Intellektuelle diesen Weg stark machen, sondern dass er offenkundig auch der Frömmigkeitspraxis vieler Muslime entspricht. Denn für viele Muslime ist die Schönheit des Korans der entscheidende Schlüssel zur Begegnung mit Gott. Von daher lohnt es sich christlicherseits, darüber nachzudenken, ob sich durch eine ästhetische Koranhermeneutik nicht das derzeit allzu oft agonale Verhältnis beider Religionen überwinden lässt, ohne in einen pluralistischen Relativismus zu verfallen. Denn auch wenn man daran festhält, dass Gott sich in Jesus von Nazaret in unüberbietbarer, irreversibler, definitiver und normativer Weise den Menschen zugesagt hat, schließt das nicht aus, dass sich derselbe Gott an anderer Stelle in seiner Schönheit zeigt und durch seine Schönheit um die Liebe und Hingabe des Menschen wirbt. Schließlich ist es ja oft die Schönheit des Geliebten, die uns zur Liebe zu ihm bzw. zu ihr entzündet. Und auch wenn Jesus Christus die einzige, Mensch gewordene Gestalt des Logos Gottes ist, schließt das nicht aus, dass im Koran die Schönheit dieses Logos hörbare Wirklichkeit wird.

„Raum für Ästhetik“

Natürlich hängt die Frage, ob der Koran aus christlicher Sicht als Wort Gottes gehört werden kann, entscheidend von inhaltlichen Fragen ab, die nicht Gegenstand dieses Essays sein können, die ich aber andernorts bereits ausführlich diskutiert habe6. Immerhin scheint es gerade im Blick auf Christologie und Trinitätstheologie im Koran verankerte handfeste Widersprüche zwischen Islam und Christentum zu geben, die bearbeitet werden müssen, bevor wir die Möglichkeit ernsthaft bedenken können, den Koran auch als Wort Gottes für Christen ernst zu nehmen. Doch scheint mir eine solche Bearbeitung durchaus als möglich, sodass ich es für legitim halte, bei diesem ersten Verstehenszugang erst einmal auf einer rein formalen Ebene anzusetzen. Was genau könnten Christen denn vom Koran und der mit ihm ins Spiel kommenden Gegebenheitsweise der Offenbarung lernen, was ihnen aus ihrer eigenen Tradition nicht sowieso schon geläufig wäre, wenn man erst einmal nur auf die Form der Gegebenheitsweise der Offenbarung im Islam achtet?
Neben der bereits diskutierten Mündlichkeit des Korans ist es die Bedeutsamkeit der ästhetischen Form für die Ansprache Gottes an den Menschen, die uns zu denken geben kann. Auch in der christlichen Tradition spielen Musik, Kunst und Literatur eine große Rolle. Aber wir wagen es normalerweise nicht, sie direkt mit Gott zusammenzubringen und die Schönheit Gottes in ihnen zu preisen. Zumindest die moderne Theologie ist im Blick auf die ästhetische Dimension des Glaubens merkwürdig sprachlos geworden. Die ästhetische Koranhermeneutik macht mir hier Mut, der Ästhetik auch im Christentum, auch in meinem eigenen Glauben mehr Raum zu geben. Wie sehr Christinnen und Christen auf dieser Ebene etwas vermissen und sich auch von muslimischer Seite ansprechen lassen, zeigt meines Erachtens der große Erfolg von Navid Kermanis Buch über das Christentum, mit dem er ja in ganz zentraler Weise gerade die ästhetischen Seiten der christlichen Traditionen vor Augen stellt und sie uns so wieder neu erschließt7.

Wahrheit im Dialog

Ein dritter Aspekt zur Gegebenheitsweise des Korans, der mir auch christlich bedeutsam zu sein scheint: Es ist interessant, dass der Koran in seiner dialogischen Form Wort Gottes zu sein beansprucht. Das heißt, nicht nur die Anrede Gottes an mich ist Gottes Wort, sondern auch das Ringen der Menschen um dieses Wort, das im Koran bezeugt wird. Gelegentlich ist es ja sogar der Satan, der im Koran zu Wort kommt. Auch die Gegner Muhammads werden zitiert. Gerade dass Muslime so kompromisslos darauf bestehen, dass der Koran insgesamt Wort Gottes ist, kann uns dafür sensibilisieren, dass das Wort Gottes kein Wort sein muss, das sich bei mir privat im Herzen ereignet und direkt aus der Heiligkeit Gottes entlassen wird. Vielmehr ist der Diskurs der Propheten mit Gott, aber auch ihr Diskurs mit den Menschen, ja das Ringen und Suchen der Menschen insgesamt, Wort Gottes, sofern sich darin Gottes Gegenwart ereignet. Gottes Wort ereignet sich also nicht, wie wir es seit der Romantik gerne hätten, in der privaten Innerlichkeit, sondern im zwischenmenschlichen Beziehungsgefüge und kann nur verständlich werden, wenn wir Gott inmitten aller geschöpflichen Stimmen mithören.
Die Tatsache, dass der Koran Gottes Wort im dialogischen Ereignis verortet, kann uns dafür sensibel machen, dass wir Gott nicht jenseits unserer Beziehungen begegnen können, sondern nur in ihnen. Das Wort Gottes will uns eben in unserem Alltag berühren und verändern und in ihm entdeckt werden. Entscheidend ist also nicht der Inhalt des Wortes und auch nicht der Ausweis, dass Gott es sagt, sondern entscheidend ist der Akt des Sprechens Gottes, weil allein so die Gegenwart Gottes zum Inhalt der göttlichen Botschaft wird. Die entscheidende Aussage des Korans ist also nicht ein bestimmter Inhalt, sondern das durch seine Rezitation performativ hergestellte Ereignis der Gegenwart Gottes: In ihm wird „die Gegenwart Gottes sinnlich wahrnehmbar“8. Und dieses Ereignis geschieht ursprünglich im Koran im Dialog – gerade auch im Dialog über die Grenzen der eigenen Religion und Weltanschauung hinweg. Nimmt man diese Spur ernst, wird klar, dass auch der Diskurs mit Menschen anderen Glaubens zum Ort der Anrede Gottes werden kann. Wenn wir das christlich ernst nehmen, kann es uns zusätzlich motivieren, den Koran zu lesen.

Wahrheit in gezähmter Ambiguität

Ein letzter Punkt betrifft die Ambiguität, die aus der Tatsache der unterschiedlichen Lesarten des Korans folgt. Schon sehr früh entwickelte sich im Islam die Tradition von sieben verschiedenen Rezitationsweisen des Korans, die auf den Propheten selbst zurückgeführt wurden9. Diese unterschiedlichen Rezitationsweisen pflegen vor allem ästhetisch bedeutsame phonetische Unterschiede und schlagen nur selten auf den Inhalt durch.
Schon vor dem Tod des Propheten waren verschiedene Rezitationsweisen dieser Art im Umlauf und scheinen auch von ihm akzeptiert worden zu sein. Entsprechend wurde der schriftlich verbindliche Kodex zwar auf der Grundlage der letzten Rezitation des Propheten vor seinem Tod entwickelt. Zugleich wurden aber bewusst keine diakritischen Zeichen eingefügt, die es unmöglich gemacht hätten, ihn auch in den anderen gängigen Weisen zu rezitieren; denn die entsprechenden Rezitationsarten der Prophetengefährten sollten nicht ausgeschlossen werden10. Die theoretische Möglichkeit von Uminterpretationen wesentlicher Inhalte des reinen Konsonantentextes wurde offenkundig nicht als Problem empfunden, weil sie durch die vorgegebenen oralen Traditionen ausgeschlossen war. Das heißt, die schriftliche Fixierung schloss zwar einige Randpositionen aus, legte aber nicht eine verbindliche Lesart des Korans fest, sondern diente als gemeinsamer Bezugspunkt unterschiedlicher Rezitationsweisen.
Historisch betrachtet scheint sogar die Beschränkung auf sieben Lesarten restriktiver zu sein als die Praxis der ersten Muslime, die noch viel mehr Lesarten kannten und anerkannten. Erst der Bagdader Gelehrte Ibn Mudjāhid (859-936) war es, der in seinem vergleichenden Buch über die Koranlesarten versuchte, eine Kanonisierung von nur sieben Koranlesarten zu begründen11 und auf diese Weise die ursprüngliche Ambiguität des Textes zu zähmen. In vielen älteren Lehrbüchern ist noch von deutlich mehr Lesarten die Rede, und diese Beschränkung auf sieben wurde denn auch niemals von allen akzeptiert12. Die Reduktion hatte allerdings nachvollziehbare pragmatische Gründe, insofern eine allzu große Vielzahl von Rezitationsweisen des Korans die Entwicklung eines schulmäßigen Betriebs in Sachen Korangelehrsamkeit erschwerte. Gerade für den liturgischen Gebrauch war die Reduktion auf sieben Lesarten erforderlich, um die Tradierung des Korans und seiner Rezitation in den Gemeinden handhabbar zu machen. Interessanterweise wurde in den Koranwissenschaften dennoch die ganze Fülle und Bandbreite möglicher Lesarten rezipiert und diskutiert, um auf alle Verständnismöglichkeiten der Offenbarung zugreifen zu können.
Die Ambiguität des koranischen Textes wird dadurch verstärkt, dass es auch schwer zu verstehende Verse in ihm gibt, die man in unterschiedlicher Weise deuten kann – eine Tatsache, die der Koran selbst bereits thematisiert, wenn es in ihm heißt:

„Gott ist es, der herabgesandt auf dich die Schrift, in ihr sind eindeutig klare Zeichen – sie sind die Mutter der Schrift – und andere, mehrdeutige.“ (Koran 3:7)13

In der klassischen muslimischen Exegese gilt die Unverständlichkeit mancher Textstellen als „eine unvermeidliche, da gottgewollte Eigenschaft des Textes […], eine göttliche List, die die Menschen zu ständiger neuer Beschäftigung mit dem Text anreizt und ihnen Gelegenheit zur Bewährung ihres Wissens und ihres Scharfsinns gibt“14. Gott will eben keine stumpfen Befehlsempfänger, sondern Menschen, die sich von seiner Kreativität und Schöpferkraft anstecken lassen und so je neue Deutungsmöglichkeiten seiner Worte erhandeln. Entsprechend gelten der klassischen Exegese die „Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten des Textes als Bereicherung und Gewinn“15. Mystiker wie Ibn Arabi (1165-1240) gehen sogar so weit, gerade in der Deutungsoffenheit des Korans seine himmlische Natur begründet zu sehen; denn sie ermögliche es, dass der Koran unter so „vielen Perspektiven gesehen und erlebt werden kann und in der Interaktion zwischen Hörer und Text immer neue Aspekte und Resonanzen offenbart“ werden können, ohne dass der Koran jemals aufhörte, er selbst und damit die göttliche Rede zu sein16.

Damit eröffnet uns der Koran eine für die Moderne durchaus nachdenkenswerte Weltsicht, in der nicht die Eindeutigkeit Voraussetzung von Wahrheitsansprüchen ist, sondern sich das Beanspruchtsein durch das Wort der Wahrheit in einer großen Verschiedenheit und Vielfalt von Formen der Resonanz auf sie ausdrückt. Der Koran erscheint so als „ein gewaltiges Meer, in dem man nie auf Grund stößt und nie durch ein Ufer zum Halten gebracht wird“17. Ähnlich wie Juden in der mündlichen Tora bereits im Akt der Offenbarung alle Deutungsmöglichkeiten der Tora enthalten sehen, sind diese auch aus muslimischer Sicht von Gott in der Offenbarung in den Koran hineingelegt worden, auch wenn sie erst im Laufe der Geschichte entschlüsselt werden18. Die Vielfalt der Interpretationsmöglichkeiten des Korans findet nach der klassischen Exegese „lediglich im Postulat der Widerspruchsfreiheit ihre Grenze“19.

Erst die Vielfalt, Ambiguität und die damit verbundene Zukunftsoffenheit des Korans macht es also plausibel, wieso man mit seiner Deutung nie an ein Ende kommen kann und der hermeneutische Prozess der Aneignung des Korans in der Geschichte keinen Abschluss findet. So beschreibt schon der Koran selbst die Unerschöpflichkeit seiner eigenen Bedeutung:

„Und wäre alles, was auf der Erde an Bäumen, Schreibrohre, und wenn das Meer, nachdem es erschöpft, noch sieben weitere Meere dazu bekäme, würden nicht die Worte meines Herrn zu Ende gehen. Wahrlich, Gott ist der unübertrefflich Erhabene, der Weise.“ (Koran 31:27)

Auch für klassische Gelehrte wie Ibn al-Djazarī ist die Offenbarung zwar abgeschlossen, ihr Inhalt aber „nicht ausgeschöpft, weil die Bedeutungsfülle des Korans unausschöpflich ist“20. Ja, für ihn liegt die Unnachahmlichkeit des Korans auch darin begründet, dass es ihm gelingt, durch die Verteilung verschiedener Bedeutungen auf verschiedene Lesarten in wenigen Worten besonders viel auszusagen. Im Hintergrund steht hier ein altes arabisches Stilideal, das darauf abzielt, mit wenigen Worten viel zu sagen21. Vielleicht ist die hierin zum Ausdruck kommende Wertschätzung poetischer und metaphorischer Rede ein Punkt, den wir in einer Zeit, die so viel Wert auf analytische Klarheit und Effizienz legt, wieder neu lernen sollten. Jedenfalls ist die Zähmung von Ambiguität durch Begrenzung von Lesarten und durch ihre Bindung an orale Traditionen ein viel pluralitätsfreundlicherer Umgang mit ihr als die für die Moderne typische Suche nach ihrer Tilgung.
Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass auch muslimische Fundamentalisten diesen Punkt wieder neu lernen müssen. Aber statt diese fundamentalistische Verkrüppelung der Koranlektüre auch noch christlich fortzuschreiben, sollten wir uns an ihre klassische Ausgestaltung erinnern und uns von ihr zu denken geben lassen. Vielleicht bemerken wir dann, dass das eigentliche Problem Europas nicht etwa der Islam ist, sondern unsere immer mehr Anlass zur Besorgnis gebende Unfähigkeit, in kompetenter Weise mit Religion umzugehen.

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