"Gehet hin und bloggt!"Netzinkulturation im Zeitalter des Leitmediums Internet

"Ich klicke, also bin ich": Das Internet ist zum Leitmedium der jungen Generation geworden. Jürgen Pelzer, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Religionspädagogik und Mediendidaktik an der Goethe-Universität Frankfurt und Leiter des Kompetenzzentrums Internet beim Trainings- und Beratungsnetzwerk Weiterbildung-live, analysiert die Medienstrategie des Vatikans und der deutschen kirchlichen Internetarbeit.

"Ich klicke, also bin ich" - diese Abwandlung von René Descartes' "Cogito ergo sum" gibt den medialen Nerv einer ganzer Generation wieder: Das Internet ist zum Leitmedium der jungen Generation avanciert, deren Vertreter darum auch als "digital natives" und "digital residents" bezeichnet werden. Es bietet den Kirchen ebenfalls ein großes Potential. Vor allem die jungen Milieus, die die Sinus-Studie als Moderne Performer, Experimentalisten und Hedonisten beschreibt, kommunizieren über das Internet und suchen dort auch nach Antworten auf die Sinnfrage. So ist es nicht verwunderlich, daß in Deutschland 54 Prozent der Unternehmen, Behörden, Verbände und Nonprofit-Organisationen die neuen Möglichkeiten des Internets zu PR-Zwecken nutzen1. Um den Mehrwert des Internets für die kirchliche Glaubenskommunikation zu verstehen, muß man zuerst einmal den anthropologischen Reiz des Mediums für die junge Generation erkennen.

Das Internet als Selbst-, Beziehungs- und Informationsmanagement

Von den 12- bis 25jährigen haben 96 Prozent Zugang zum Internet, und die Jugendlichen dieser Altersgruppe sind im Durchschnitt täglich fast zwei Stunden online. Die Frage, worin der Reiz des Internets für sie liegt, war Inhalt vieler Studien und läßt sich eindeutig beantworten: Jugendliche managen durch den Gebrauch des Internets - vor allem der sozialen Netzwerke wie StudiVZ, SchuelerVZ, Facebook und wer-kennt-wen - ihre persönliche Identität (Selbstmanagement) sowie ihre Beziehungen zu anderen Jugendlichen (Beziehungsmanagement), und sie nutzen das Internet als primäre Informationsquelle, als Weltzugang (Informationsmanagement). Diese dreifache Funktion des Internets für Jugendliche wurde zuletzt durch die Studie "Heranwachsen mit dem Social Web" des Hans-Bredow-Instituts belegt2.

Mit einer Kurzformel läßt sich resümieren: StudiVZ sagt dem Jugendlichen, wer er ist; das Internet ist für ihn das primäre Mittel zur Identitätsbildung. Hier kann sich der Nutzer Profile erstellen, sich mit anderen befreunden, Gruppen bilden und seine Zustimmung oder Ablehnung ausdrücken. Es ist kein technischer Reiz, der das Internet so unentbehrlich macht, sondern ein zutiefst anthropologisches Be-

dürfnis: Es ist die Frage nach dem Selbst; es ist die spannendste Reise, die ein Mensch antreten kann - die Entdeckung und Entwicklung des eigenen Ichs. Das Internet stellt dazu die modernen Möglichkeiten bereit; darum können Jugendliche nur schwer darauf verzichten3.

Soziale Netzwerke als Motor im Internet

Die meistgenutzten Formate im Internet sind die Sozialen Netzwerke; in ihnen sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen präsent: Die einschlägigen Studien gehen von etwa 70 Prozent Nutzern unter den 12- bis 29jährigen aus4. Hinter vielen Netzwerken stehen mittlerweile große Medienkonzerne. So kaufte sich der Holtzbrinck-Konzern im Jahr 2006 für geschätzte 85 Millionen Euro die VZ-Gruppe, zu der die in Deutschland beliebtesten Formate SchuelerVZ, StudiVZ und meinVZ gehören. Eigentümer des vor allem im Südwesten Deutschlands bekannten Netzwerks wer-kennt-wen ist RTL interactive. Das im Süden Deutschlands beliebte soziale Netzwerk Lokalisten.de wird fast zu 90 Prozent von der ProSiebenSat.1 Media AG betrieben.

Soziale Netzwerke liegen in der Nutzergunst gemäß allen Studien ganz weit vorn, vor allem Facebook5. Die Bezeichnung "soziale Netzwerke" ist dabei bewußt der Soziologie entliehen, da die Attraktion dieser Formate im Internet darin besteht, mit anderen Menschen in Kontakt treten oder bleiben zu können.

Wichtig sind dabei folgende Eigenschaften und Möglichkeiten: Erstens kann der Nutzer ein sogenanntes Profil anlegen, in dem er Informationen über sich preisgibt und auch Fotos sowie Videos von sich präsentiert. Die Informationen sind je nach sozialem Netzwerk verschieden: In StudiVZ werden beispielsweise sehr private Dinge wie der Buch- und Musikgeschmack abgefragt, während in dem eher businessorientierten Netzwerk XING ausgesprochen berufsorientierte Daten in den Nutzerprofilen stehen - wie etwa die Berufslaufbahn oder berufliche Referenzen. Als zweites Merkmal haben alle sozialen Netzwerke im Internet Gruppenfunktionen. Der Nutzer kann sich verschiedenen Gruppen zuordnen, und diese erscheinen dann in seinem Profil. Die Gruppen, in denen der Nutzer Mitglied ist, werden in seinem Profil angezeigt. Die Freunde schauen sich dann die Profile an und sehen anhand der verschiedenen Gruppenzugehörigkeiten, wie der jeweilige Profilbesitzer einzuschätzen ist.

Auch andere Formate erfreuen sich großer Beliebtheit, zum Beispiel das der Wikis. Das Wort kommt aus dem Hawaiianischen, wo es so viel wie "schnell" bedeutet. Wikis sind kaum einem Internetnutzer bekannt, und dennoch nutzt fast jeder von ihnen das bekannteste Wiki: die Wikipedia. Gerade bei jungen Internetnutzern ist diese eine der beliebtesten Internetseiten. Dabei ist die Grundidee eines Wikis sehr einfach: Jeder Besucher einer Webseite sollte diese auch schnell bearbeiten kön-

nen, um so seine Informationen zum Gesamten beizutragen. Dies entspricht übrigens auch der Grundidee des Internets, wie sein Erfinder Tim Berners-Lee es sich vorstellte. Aus diesem Interesse, Seiten im Internet nicht nur lesen, sondern auch bearbeiten zu können, ist Wikipedia entstanden - ein Kunstwort aus Wiki und Enzyklo-pedia. Viele Firmen nutzen für ihre Fusionsprozesse im Change Management Wikis.

Ein weiteres, gern verwendetes Format im Internet ist das der Blogs. "Blog" ist die Abkürzung für Weblogbuch, was so viel wie ein Tagebuch im Internet bedeutet. Die neuesten Beiträge erscheinen dabei immer an oberster Stelle, und die Person des Autors steht oftmals im Vordergrund. In einem Blog geht es bewußt um subjektive und persönliche Einschätzungen.

Kirchliche Präsenz im Web 2.0

Auch im religiösen Bereich gibt es erste Nutzungsszenarien für Wikis, wie das Schönstätter Gruppenleiterwiki eindrücklich beweist6. Berühmtestes Beispiel für einen Blog im kirchlichen Raum in Deutschland ist der BBB - der Bischof Bode Blog des Osnabrücker Bischofs7. Innovative kirchliche Internetprojekte mit dem Schwerpunkt Jugend listet Matthias Sellmann in einem Artikel über Jugendpastoral auf8. Nicht nur US-Präsident Barack Obama baute in seinem Wahlkampf stark auf die Nutzung von Internetdiensten, um die junge Wählerschaft zu mobilisieren - inzwischen werden auch viele religiöse Gruppen in den sozialen Netzwerken gegründet, wie die im Jahr 2009 erschienene BruderhilfeStudie "Religiöse Sinnangebote im Web 2.0" der Goethe-Universität Frankfurt aufzeigt9.

Pastorale Mitarbeiter in der kirchlichen Jugendarbeit kommunizieren verstärkt über diese Online-Netzwerke mit ihren Jugendlichen, wenn es um Absprachen und Organisatorisches geht. Dennoch war es in vielen Bistümern jahrelange Praxis, den Zugang zu den Netzwerken auf den Bistumsrechnern zu sperren. Die Präsenz der Hauptamtlichen in den sozialen Netzwerken des Internets wurde nicht als wirkliche Arbeit, sondern als Freizeitbeschäftigung angesehen. Diese Einschätzung beginnt sich zunehmend zu wandeln. Das Internet, vor allem die sozialen Netzwerke, werden als das erkannt, was sie sind: die digitale Agora der Postmoderne, auf der Kirche präsent sein muß, wenn sie ihren Verkündigungsauftrag ernst nimmt.

Inzwischen gibt es bereits eine lange Liste von kirchlichen Verlautbarungen zum Thema Internet, die ihre Vorläufer in früheren Schreiben zum Verhältnis von Kirche und Medien haben. Der Grundgedanke läßt sich eindrucksvoll in dem im Jahr 2002 erschienenen Schreiben "Kirche und Internet" des Päpstlichen Rats für die sozialen Kommunikationsmittel erkennen10. Dieses Schreiben geht davon aus, daß es nicht reicht, das Internet bloß als einen neuen Distributionskanal für das Evangelium zu sehen:

"Die Botschaft selbst muß in diese, von der modernen Kommunikation geschaffene 'neue Kultur' integriert werden."11

In Anlehnung an den Leitbegriff der Inkulturation im heutigen Verständnis der Kirche von Mission läßt sich in bezug auf das Internet folgender Kerngedanke festhalten: Die Internetstrategie der Kirche muß darin bestehen, daß sie eine Netzinkulturation der christlichen Botschaft anstrebt. Dabei ist das Internet nicht als eine neue digitale Anschlagtafel für Neuigkeiten und Informationen zu verstehen, sondern primär als ein lebendiges Austauschforum, in dem Personen interagieren und die Botschaft des Evangeliums jeweils auf ihre milieuspezifische Weise inkulturieren.

"Pope to You": Die Medienstrategie des Vatikans

Der Vatikan begann ab 2008 in einer groß angelegten Internetkampagne "Pope2You", dieser Einsicht in die Möglichkeiten des Internets Rechnung zu tragen. Dabei liegt das Hauptaugenmerk auf dem Einsatz dieser neuen Tools, allen voran des sozialen Netzwerks Facebook12. Ebenfalls setzt der Vatikan auf You-Tube, das Iphone und ein Wiki. Hier fällt sofort auf, daß man beschlossen hat, bereits bestehende Dienste zu nutzen und keine eigenen Pendants zu gründen. Gleich in zwei aufeinanderfolgenden Jahren (2009/10) widmete Papst Benedikt XVI. seine jährliche Botschaft zum Welttag der sozialen Kommunikationsmittel der kirchlichen Nutzung des Internets. Im Jahr 2009 wandte er sich an die gläubigen Jugendlichen unter den Internetnutzern und rief sie dazu auf, auch auf dem "digitalen Kontinent" Zeugnis von dem Glauben abzulegen, der sie bewegt. Das Internet bezeichnete er als ein "Geschenk für die Menschheit" und als mit "enormem Potential ausgestattet".

Im Jahr 2010 richtete der Papst an die Priester eine medial viel beachtete Botschaft und forderte sie auf zu bloggen, also ein öffentliches Internettagebuch zu schreiben und auch die anderen Möglichkeiten des Internets aktiv zu nutzen. Der Vatikan räumt dem Internet theologische Bedeutung ein. Er versteht es als ein Mittel zur Glaubenskommunikation und zum Kontakt mit kirchenfernen Personen. Wie sieht die deutsche Adaption dieser Internetstrategie des Vatikans aus?

Die Kirche in der deutschen Internetlandschaft

Die katholische Kirche in Deutschland arbeitet in vielfacher Weise an der Erstellung und Umsetzung dieser Internetstrategie. Neben großen und wichtigen Portalen wie katholisch.de, rpp-katholisch.de, kirche.tv und anderen werden auch auf institutioneller Ebene Möglichkeiten geschaffen, das Internet als Instrument der Verkündi-

gung nutzbringend in ein Gesamtkonzept zu integrieren. So ist etwa die Neugründung der Katholischen Arbeitsstelle für Missionarische Pastoral (KAMP) in Erfurt ein Schritt in Richtung auf die Vernetzung einzelner kirchlicher Internetakteure und Aktionen, vor allem im Bereich der Seelsorge13. Damit greift die KAMP die jahrelang erfolgreiche Arbeit der Katholischen Glaubensinformation (KGI) und der Katholischen Sozialethischen Arbeitsstelle (KSA) auf, setzt sie fort und sichert deren Erkenntnisse. Auch die Bertelsmann Stiftung hat mit der Idee einer eigenen katholischen Community (Projekttitel: Cathoo.net) einen Schritt in Richtung auf die Erstellung eines eigenständigen sozialen Netzwerks für die katholische Kirche in Deutschland getan und verhandelt mit ihr über eine mögliche Kooperation. Dieser Schritt, ein eigenes kirchliches Soziales Netzwerk anzubieten, wird jedoch genau abgewägt, da bereits die Internetstrategie des Vatikans aus mehreren Gründen auf die Nutzung bestehender Netzwerke wie Facebook setzte.

Eine häufig gemachte Erfahrung bei der Installation von eigenen Communities im Internet ist jene, daß sie schlichtweg nicht genutzt werden. Ihren Grund findet diese Erfahrung in der 90-1-9 Regel. Diese Regel für aktive Beteiligung im Internet besagt, daß 90 Prozent der Nutzer nur inaktive Nutzer sind, die keine Inhalte beitragen. Lediglich ein Prozent der Nutzer ist für die Inhalte und die Aktivität in den eigenen Communities verantwortlich, während hingegen neun Prozent ein wenig zur Aktivität und zu den Inhalten beitragen. Eine erste Testphase des Projekts cathoo.net mit Nutzern aus verschiedenen Bereichen der Kirche startete im Sommer 2010 und die Rückmeldungen werden bis Anfang 2011 ausgewertet sein.

Neben diesen großen Projekten sind es aber vor allem die vielen kleinen Initiativen an der Basis, auf der Ebene von Vereinen, Pfarreien und Einrichtungen, die gezielt auf die Menschen vor Ort wirken. Kirche war schon immer dadurch gekennzeichnet, daß sie aus vielen unterschiedlichen kleinen lokalen Gruppen besteht, und genau an dieser Stelle kommt das Internet ins Spiel: Anders als das Massenmedium Fernsehen ermöglicht das Internet die Unterstützung kleiner Gruppen in ihrer Kommunikation.

Da ist zum Beispiel die Meßdienergruppe, die in StudiVZ eine Seite zu ihrer Arbeit eingerichtet hat, oder die Firmgruppe, die einen gemeinsamen Blog als Tagebuch über ihre Firmzeit im Internet führt14. Oder etwa die Gemeinde, die eine eigene Gruppe in wer-kennt-wen unterhält. Es gibt den Pfarrer, der in XING die Mitglieder aus seinem Seelsorgebezirk anschreibt, um kirchenferne Moderne Performer in diesem Business-Netzwerk online zu erreichen - kurzum: ein enormes Spektrum an Potential und Ideen, über das die Kirche verfügt und das sie abfragen kann. Selbst in sehr neuartigen Formaten im Internet, etwa dreidimensionalen Welten à la Second Life, ist die Kirche vertreten - hier sogar in offizieller Art und Weise durch das Erzbistum Freiburg15. Da bieten in der Kirche Sankt Georgen Haupt- und Ehrenamtliche religiöse Angebote an. Zentrum ist dabei das zweimal wöchentlich abgehaltene kirchliche Abendgebet, die Komplet, sowie diverse Gesprächs-

foren. Ein interaktiver Engelparcours lotet beispielsweise Möglichkeiten aus, wie auch im 3D Internet Glaube erfahrbar werden kann.

Eigene redaktionell gepflegte und verwaltete Angebote zu erhalten und damit massenmedial über das Internet auf eine möglichst große Öffentlichkeit einzuwirken, ist die eine Seite der kirchlichen Internetstrategie. Die vielen einfachen und dadurch so effizienten Ideen und Projekte an der Basis geschickt zu fördern und zu vernetzen, ist die andere. Denn eine gute Idee für den Interneteinsatz in einer Pfarrei in einem beliebigen Bistum funktioniert meist auch in Pfarreien anderer Bistümer. Die Postmoderne macht vor Bistumsgrenzen nicht Halt; nur müssen die Verantwortlichen in den verschiedenen Bistümern von den guten Ideen in anderen Bistümern wissen, und die hauptamtlichen Mitarbeiter sollten durch Schulungen zumindest einen Einblick in die Möglichkeiten des Internets erhalten.

Die Formate werden mittlerweile fast alle kostenlos zur Nutzung angeboten. In Zeiten immer knapper werdender Finanzmittel der Kirchen legt es sich nahe, auf bestehende Angebote zurückzugreifen. So gibt es kostenlose Anbieter von Wikis (Wikimedia), Blogs (Wordpress, Blogger.com), Webseiten (Drupal Gardens), sozialen Netzwerken (Ning) und anderen. Die großen sozialen Netzwerke sind in ihren Funktionen per se meist kostenlos. Damit bietet sich für Pfarreien und kleinere kirchliche Einrichtungen eine Infrastruktur an, die früher nur mit mittleren Finanzetats zu bewerkstelligen war.

Ein weiterer Trend in der kirchlichen Internetnutzung ist die Konzentration auf lizenzfreie Open Source Software. Anders als proprietäre Software, für die oftmals horrende Lizenzkosten und ein hoher Programmieraufwand für Updates und Neuerungen anfallen, bietet Open Source Software die Möglichkeit, eine zukunftssichere und kostengünstige Software zu nutzen. Open Source Software liegt im Trend, denn es steht nicht eine Firma im Hintergrund, die sie entwickelt, sondern eine freie Entwicklergemeinde. Dies ist der Grundgedanke von Open Source: Der Quellcode der Software liegt offen im Netz; jeder kann ihn weiterentwickeln. Anders bei proprietärer Software: Hier ist der Code nur einer kleinen Gemeinde von bezahlten Entwicklern bekannt. Die Internetseiten vieler Bistümer laufen auf Open Source Systemen, wie beispielsweise im Erzbistum Köln, das auf dem OpenCMS System aufbaut. Das eigentliche große "Geschenk", welches das Internet nach Benedikt XVI. darstellt, liegt aber in seiner theologischen Bedeutung für die Kirche.

Das Paradigma der Netzinkulturation

Das Internet hat sich von einer Anschlagtafel zu einem sehr personenzentrierten Kommunikationsmittel weiterentwickelt. Der Begriff der persönlichen Öffentlichkeit prägt mittlerweile die Debatte: Ab dem Jahr 2000 begannen die kommunikativen Dienste ihren Siegeszug, die es Nutzern ermöglichten, mit einfachen

Mitteln eigene persönliche Inhalte zu erstellen und miteinander in Kontakt zu treten. Die meistbesuchten Seiten im Internet - Facebook &Co. - bieten so gut wie keine Inhalte an. Diese kommen exklusiv von den Nutzern. Ab 2004 spricht man gar vom Web 2.0, um eine neue Phase in der Entwicklung deutlich zu machen. Dieser technisch anmutende Begriff ist in der neueren Literatur mittlerweile ersetzt durch den der Social Media. Dieser Begriff verdeutlicht, worum es im Kern geht: keine technische Revolution, sondern letztlich eine soziale, gesellschaftliche Evolution, verstärkt und ausgelöst durch die neuen Möglichkeiten des Internets. Und diese gesellschaftliche Änderung macht auch vor den Kirchentüren nicht Halt.

"Trial and error"-Mentalität

Vor dem Hintergrund der Sinus-Milieustudie zeigt sich: Besonders aktiv im Netz sind die Modernen Performer, Experimentalisten und Hedonisten - also die neuen Leitmilieus, welche die Kirche kaum noch erreicht. Die neue Denkweise, die mit ihrer Internetbegeisterung einhergeht, läßt sich am besten als "trial and error"-Mentalität beschreiben: Es wird probiert, und es gibt keine Angst vor Fehlern - ein kühner Mut. In der Internetszene hat sich dafür der Ausdruck "beta" eingebürgert. Er bezeichnet eigentlich den Zustand einer Software, die sich noch in der Weiterentwicklung vor der Marktreife befindet. Dieser Ausdruck ist aber gleichsam paradigmatisch für die gesamte Postmoderne, vor allem für das Internet und seine digital residents, zu denen man, grob gesagt, die Generation der ab 1985 Geborenen rechnet, die mit dem Internet groß wurden. Das Internetlexikon Wikipedia ist ein gutes Beispiel, um die Bedeutung des "beta"-Seins zu erläutern. Ein Artikel ist darin nicht wie in früheren Lexika ein fertiges Gesamtkonstrukt mit hoher Haltbarkeit, sondern befindet sich stets im Status des Wandels, der Aktualisierung, und alle können aus ihrem Blickwinkel dazu beitragen. Der Konsens entsteht am Ende: Man geht nicht mit festen Überzeugungen in die Diskussion, sondern der Konsens ist das, was sich aus der Diskussion ergibt.

Ein solches Verständnis hat natürlich weitreichende Konsequenzen für die Kirche als Institution, die sich in diesem bewegten Internet präsentiert. Hierarchische Strukturen des Top-Down-Prinzips (von oben nach unten) stehen konträr zur Egalität des Internets. Die Erfahrung, daß viele Internetprojekte an diesem Paradigma scheitern, machten auch zahlreiche Firmen. Die eigentliche Herausforderung liegt darin, daß der Einsatz der Internetmöglichkeiten eng übereinstimmen sollte mit dem Selbstverständnis der Organisation, die sie nutzt. Das Internet ist eben nicht nur ein digitaler Schaukasten, in den die Anbieter ihre Inhalte analog zu einem Printmagazin einstellen können. Hier kann die Kirche von den Firmen lernen. Viele Firmen haben die Erfahrung gemacht, daß sie das Internet in einer wenig

effektiven Weise nutzen - nämlich als Anschlagtafel. Dies ist zwar nach wie vor nötig, reicht aber nicht mehr aus. Die kommunikativen Funktionen des Web 2.0 in Form von Blogs, Wikis und Sozialen Netzwerken verlangen Transparenz und Offenheit.

Theologisch gesehen kann die Kirche sehr offen mit dieser Freizügigkeit im Internet umgehen. Vertraut sie auf das Wort Gottes, so wird, mit Kardinal John Henry Newman gesprochen, die Wahrheit immer stärker sein. Anders ausgedrückt: Der Lügner wird sich selbst als Lügner entlarven. Im Bereich des Internets ist dieser Vorgang immer wieder feststellbar und wird unter dem Begriff der Selbstreinigungskraft der Online-Communities reflektiert. Natürlich darf dies keine naive Ignoranz gegenüber bestehenden Rechtslagen wie etwa dem Persönlichkeitsrecht oder gegenüber dem Fakt implizieren, daß einige Nutzer ("Trolle" genannt) nichts anderes tun, als im Internet beständig andere Nutzer zu provozieren. Es bedarf letzten Endes klarer Regeln (Netiquette), die auch mit Sanktionsgewalt durchgesetzt werden müssen. Doch auf einer viel grundlegenderen Ebene geht es darum, wie Kirche sich an dieses neue Medium heranwagt: aus der Perspektive der Skepsis oder mit Blick auf das Potential.

Eine Analogie findet sich im Bildungssystem. Goethe sagte einmal, daß unsere Wünsche die Vorboten der Fähigkeiten sind, die in uns schlummern16. Um als Lehrer einen Schüler zu fördern, muß der Pädagoge das Potential in ihm sehen und fördern - eine Frage des Blickwinkels. Neuere Lernforschungen zeigen, daß die Methode des Nürnberger Trichters nicht der Weise entspricht, wie Wissen als handlungsrelevante Kenntnis generiert wird. Dennoch ist der Nürnberger Trichter als die stupide Sender-Empfänger-Vermittlung von Wissen weiterhin oftmals im Einsatz. Ein Blick auf die Sitzordnung in vielen Schulklassen verdeutlicht dies: Einzelne Tische sind ausgerichtet auf den einen Inputgeber, den Lehrer.

Web 1.0-Denken in der kirchlichen Internetarbeit

Was entspricht dem Nürnberger Trichter in der kirchlichen Internetarbeit? Es ist die Nutzung der Web 2.0-Möglichkeiten im Web 1.0-Denken. Das bedeutet, daß alle Möglichkeiten unter dem Paradigma gesehen und genutzt werden, wie die Kirche als Sender Informationen an möglichst viele Empfänger übermitteln kann. Es ist das Gesetz der Quote, das aus den bestehenden Medien auf das Medium Internet angewandt wird. Doch unter diesem Blickwinkel erkennt man nicht das eigentliche Potential.

In Zeiten des Web 2.0 liegt der Fokus viel stärker darauf, bereits bestehende Initiativen und bereits aktive Personen zu unterstützen. In diesem neuen Paradigma wird der Meßdiener, der in SchuelerVZ eine Meßdienergruppe gründet, zum Protagonisten einer kirchlichen Internetstrategie. Es geht darum, jene Internetnutzer

zu unterstützen, die schon von sich aus die Möglichkeiten des Internets zur Glaubensverkündigung ("martyria") nutzen, und nicht - wie im alten Paradigma - etwa den Pfarrer oder andere Hauptamtliche dazu zu bringen, nun auch noch einen Blog anzulegen und zu twittern. Für viele Hauptamtliche ist die Situation sowieso schon mehr als fordernd: Die Aufgaben, vor allem im Bereich des Managements, nehmen zu, während die Ressourcen geringer werden; Burnout macht auch vor kirchlichen Türen nicht Halt. In dieser Situation des Gefordertseins ist wenig Motivation vorhanden, nun auch noch die vielfältigen Möglichkeiten des Internets kennenzulernen. Der nachhaltige Einsatz erfordert auch einen nicht unerheblichen Zeitaufwand. Dennoch sehen die meisten Priester und hauptamtlichen pastoralen Mitarbeiter den großen Mehrwert des Internets und die Notwendigkeit, daß Kirche in ihm präsent ist, wenn sie nicht den Kontakt mit der kommenden Generation verlieren will.

Wie kann diese Spannung gelöst werden? Im neuen Paradigma, in der neuen Sichtweise auf das Internet, liegt der Fokus nicht mehr so sehr auf der Kirche als Sender, sondern auf der Kirche als Unterstützer der Internetnutzer, die bereits aktiv sind. Diese Strategie knüpft direkt an die paulinische Charismenlehre an (vgl. 1 Kor 12,4-30). Das Internet, vor allem die sozialen Netzwerke, bieten die Möglichkeit, die verschiedenen Gaben des Geistes für den Dienst in der Gemeinde zu entdecken und die religiösen Protagonisten der jungen Generation zu unterstützen. Dies sind die Kommunikatoren und Mediatoren des Evangeliums in den verschiedenen Milieus im Medium Internet, diesem bedeutenden Ort der Sozialisation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen17. Die Protagonisten sind die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die religiöse Gruppen in den sozialen Netzwerken gründen und Gruppenmitglieder um sich scharen, die bloggen und auch Videos auf YouTube einstellen.

Die einfachste Art der Unterstützung, wie sie in der Internet-Jugendarbeit des Erzbistums Paderborn geplant ist, läßt sich in einem Wort ausdrücken: Verlinkung. Viele der religiösen Gruppen in den Netzwerken sind nicht mit der Webseite der Gemeinde oder der Einrichtungen verlinkt, um die herum sie sich im Internet gebildet haben.

Ein Beispiel: Die Pfarrgemeinde St. Hedwig (der Name ist frei erfunden) hat eine Webseite mit zahlreichen Informationen. Der Oberministrant hat aber schon längst in SchülerVZ eine Gruppe mit mittlerweile 16 Mitgliedern für die Ministranten von Sankt Hedwig angelegt. Die Jugendlichen sind dort präsent und besuchen kaum die Webseite der Gemeinde, unter anderem, weil sie ihnen einfach zu viel Text enthält. Beide Internetangebote, die Webseite und die Gruppe im sozialen Netzwerk SchuelerVZ, stehen isoliert nebeneinander, statt aufeinander hinzuweisen. Die Jugendlichen hingegen sind täglich in SchuelerVZ und werden dort auf die Ministrantengruppe aufmerksam. Die Initiatoren dieser Gruppen sollten Wertschätzung und Unterstützung erfahren und in die Öffentlichkeitsar-

beit eingeladen und eingebunden werden. Neben der Verbindung mit bereits aktiven religiösen Nutzern können dadurch auch neue Erstkontakte aufgebaut werden. Christian Hermes, Pfarrer in Stuttgart, macht dies beispielsweise im sozialen Netzwerk XING. Dort finden sich vorwiegend Moderne Performer. Diese, so Hermes, würde er nicht über die herkömmlichen Medienkanäle wie Pfarrbrief oder Bistumszeitung erreichen.

Lernen von der Wirtschaft - beispielsweise von Coca-Cola

Konzerne greifen die genuin theologische Idee der Charismen in ihren Internetstrategien auf. Ein Beispiel aus der Internetarbeit eines großen Konzerns - Coca-Cola - kann dies verdeutlichen: In dem großen sozialen Netzwerk Facebook existiert eine Fanseite zu der koffeinhaltigen Brause. Solch eine Fanseite ist in etwa analog einer Gruppe in StudiVZ oder anderen Netzwerken. Dort sind die mittlerweile etwa elf Millionen Fans als Nutzer mit ihrem Profil zu sehen und tauschen sich über Gott und die Welt aus - und ab und an auch über jenes Getränk, das den Konzern zu Weltruhm geführt hat. Als die PR-Abteilung darauf aufmerksam wurde, dachte man in einem ersten Schritt daran, die beiden Verantwortlichen, Dusty und Mi chael, zu verklagen. Denn diese hatten die Seite als Privatpersonen, ohne Genehmigung des Konzerns, ins Leben gerufen und auch noch das Firmenlogo verwendet.

Doch die PR-Abteilung war schlauer: Sie dachte im neuen Paradigma der Netzinkulturation. Sie erkannte das große Potential, das die beiden Gründer hatten, sah die Energie, die beide in die Bewerbung des Produkts steckten. Es waren zwei junge Männer, die einfach Freude an der Cola hatten und andere begeistern wollten. Dementsprechend änderte Coca-Cola seine Strategie: Man lud die beiden ein, dankte ihnen und unterstützte sie in ihrer weiteren Arbeit als Verantwortliche für die Fanseite in Facebook. Man kann sich leicht vorstellen, wie die Motivation dieser beiden Privatpersonen durch diese Anerkennung und Achtung seitens Coca-Cola gesteigert wurde. Beide Seiten profitieren von der Situation und Coca-Cola hat forthin zwei ehrenamtliche Unterstützer - bei minimalem Mitteleinsatz.

Das bedeutet: Ein paar Worte kosten nicht viel, können aber eine starke Motivation freisetzen. Genau darin liegt das Prinzip des Internets aus Sicht der Netzinkulturation: Menschen dabei zu unterstützen, das, was sie tun, besser und motivierter zu tun. Bei dem eben besprochenen Beispiel handelt es sich lediglich um eine koffeinhaltige, zuckerreiche Limonade. Um wie viel größer sind die Chancen für die Kirchen, die mit ihren Einrichtungen in Diakonie und Caritas, in Jugendarbeit und all den vielen anderen Bereichen zahlreiche Unterstützer im Internet aktivieren können. Es ist eine grundlegend theologische Sichtweise auf das Internet, das Potential der Charismen zu unterstützen.

Zwei Seiten einer Medaille: Transparente Institution - aktivierte digital residents

Darüber, daß Repräsentanten und wichtige Führungspersonen der Kirche mittels der neuen Möglichkeiten des Internets Kontakt zu den Gläubigen suchen, darf eben nicht in Vergessenheit geraten, daß das große Potential des Internets an der Basis, bei den vielen Gläubigen und Ehrenamtlichen, liegt. Es sind vor allem die digital residents, die jungen Nutzer, die mit dem Internet groß geworden sind, dessen Möglichkeiten intuitiv nutzen und ihren Glauben ganz selbstverständlich auch in den Netzwerken des Internets durch Gruppengründungen sowie andere Zeugnisse kundtun. Diese zu unterstützen, darin liegt das wahre Potential des Internets.

Benedikt XVI. hat in den beiden vergangenen Jahren in seinen Botschaften die beiden Seiten einer kirchlichen Internetstrategie mit folgenden beiden Polen treffend beschrieben: Zum einen können Priester und Hauptamtliche die Möglichkeiten des Internets kennenlernen und nutzen; in diesem Zusammenhang ist etwa auch das Bloggen von Bischof Franz-Josef Bode zu sehen. Zum andern betont der Papst aber auch, wie wichtig es ist, daß die junge Generation auch im Internet mutig Glaubenszeugnis gibt. Dabei kann sie die Kirche mit ihren Organisationsstrukturen und Ressourcen unterstützen und bereits Aktivierte weiter motivieren. Sie kann durch eine kluge und theologisch reflektierte Nutzung der Potentiale des Internets ihren Auftrag besser erfüllen, greifbares Symbol der Gemeinschaft mit Christus zu sein. Dafür ist ein Perspektivenwechsel nötig, den das Zweite Vatikanische Konzil wohl wissend grundgelegt hat mit der Forderung, die "Zeichen der Zeit" (GS 4) zu erkennen. Das Internet ist ein großes und wohl auch hoffnungsvolles Zeichen unserer Zeit. Wo die Kirche in den vielen kleinen und teilweise ehrenamtlichen Projekten diese Zeichen zu deuten und dementsprechend zu handeln weiß, kann sie nur gewinnen.

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