FeuilletonkatholizismusEin Nachruf

Seit etwa einem Jahrzehnt läßt sich das Phänomen des Feuilletonkatholizismus beobachten. Claudia Stockinger, Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Göttingen, bewertet diese ästhetische Spielart des Religiösen als Ausdruck der Erlebnisgesellschaft und konstatiert ihre abnehmende Bedeutung.

"Eine unerwartete Liebesgeschichte, die knapp ein Jahrzehnt dauerte …, geht wie über Nacht zu Ende"1: Die Geschichte dieser Liebe zwischen Feuilleton und katholischer Kirche, deren Ende der Journalist Gustav Seibt im April 2010 verkündete, hatte unter anderem er einige Jahre zuvor selbst ausgerufen. In einem Beitrag für NDR Kultur im November 2005 machte Seibt für das seit der Jahrtausendwende gewachsene Interesse der deutschen Publizistik an der katholischen Kirche die Kategorie des "Feuilletonkatholizismus"2 stark - ein publizistisches Konzept, das von (allerdings mißverständlich so bestimmten) christlich-katholischen Positionen geprägt ist und das weitgehend unbehelligt von der Amtskirche selbst diskutiert wurde.

Ebenso wie die Kirche den ihr von Seibt attestierten "Aufstieg" höchstens am Rande realisierte, wird sie auch die Diagnose, es sei nun recht eigentlich ihr "Fall" zu beobachten, kaum nachvollzogen haben. Nicht die Kirche hat sich (und ihre Positionen) in diesen Jahren verändert, sondern die öffentliche Rede über die Kirche. Seibt dagegen stellt fest, nach einem Jahrzehnt einer "katholische(n) Konjunktur" beginne in der Kirche nun wieder "der Alltag"3. Fakt ist: Nicht für die Kirche beginnt der Alltag, sondern für ein Feuilleton, das sich eine Zeitlang für Katholisches interessiert hatte und deren Vertreter jetzt bemerken, daß die noch junge Liebe schon wieder erkaltete, daß diesem (aus ihrer Sicht) merkwürdigen Interesse also keine Dauer beschieden war.

Eine interne Debatte des Feuilletons

Zu Seibts Einschätzung mag die seit Januar 2010 innerkirchlich angestoßene Aufarbeitung sexuellen Mißbrauchs an Kindern und Jugendlichen in kirchlichen Einrichtungen erheblich beigetragen haben - gerade aus Sicht derjenigen, die sich über katholische Konjunkturen wunderten, mochte es nun nicht länger als angesagt gelten, sich zur katholischen Kirche zu bekennen oder sich für sie einzusetzen, aus welchen Motiven auch immer. Für die bis dahin grundsätzlich ästhetisch - und nicht etwa ethisch - bestimmte Faszination einiger Vertreter des Feuilletons am Katholizismus dürften dergleichen Fragen (etwa Fragen nach einem Fehlverhalten der Institutionen und ihrer Träger) allerdings keine systematische Relevanz haben.

Schon daran läßt sich ablesen: Ein Blick auf die Debatte um den Feuilletonkatholizismus macht schnell deutlich, daß es sich in erster Linie um eine interne Debatte des Feuilletons handelte, und das weiß niemand besser als das Feuilleton selbst. In einer hellsichtigen Analyse zieht Thomas E. Schmidt im März 2007 eine Zwischenbilanz:

"Die Debatte ist munter. Anders als vor zehn Jahren ist Religion wieder in der Öffentlichkeit. Aber vielleicht ist sie auch nur dort. " 4

Bis ins ausgehende 20. Jahrhundert war gerade das eigene religiöse Bekenntnis kein (öffentlich verhandelbares) Thema mehr: "Tabus gibt es keine mehr, außer Gott", meinte der deutsche Schriftsteller Arnold Stadler noch 2002 und fügte hinzu, man sei eher bereit, das Gegenüber zu sexuellen Handlungen aufzufordern als zu einem öffentlichen Tischgebet5 - in religiösen Angelegenheiten ist die Gefahr offensichtlich groß, sich lächerlich zu machen. Im Jahr 2007 aber führte "Joseph Ratzinger, Papst Benedikt XVI." laut einem Ranking des "Magazins für politische Kultur" Cicero die Liste der führenden deutschsprachigen Intellektuellen an6; und Thomas E. Schmidt nennt Religion zeitgleich das neue "Lieblingsthema der kulturellen Eliten"7. Insbesondere die katholische Prägung hatte es dem Feuilleton angetan. Daß also "Gott" kein Thema sein könne, mochte für Partygespräche gelten, für die publizistischen Debatten in den Feuilletons traf es nicht zu. Was zuvor als peinlich galt, wurde modisch.

Erstmals tauchte der Begriff des Feuilletonkatholizismus 2001 in den Feuilletons auf. In der Berliner Zeitung stellte Jens Bisky mit einiger Verblüffung fest, der Katholizismus gelte in den Feuilletons nicht länger als eine rückständige Randerscheinung der Moderne, die sich über kurz oder lang ohnehin überleben werde. Vielmehr sei, so Bisky, "in den deutschen Feuilletons, vor kurzem noch Hochburgen des Fortschritts, … im Augenblick die Liebe zum Katholischen" zu beobachten, "das vielen als Inbegriff des Veralteten schlechthin gilt"8. "Katholisch" meint hier die paradoxe Faszination sowohl für eine hinterwäldlerisch anmutende, muffig-verstaubte Antimoderne als auch für elitäre Praktiken und das Interesse an überkommenen Formen, die für wahrer, heiliger, schöner gehalten werden als die im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils reformierte Liturgie.

Was also zeichnet den Feuilletonkatholizismus aus? Zunächst einmal ist festzuhalten, daß der Begriff im Feuilleton selbst polemisch gebraucht wird; diejenigen, für die er erfunden wurde (Autoren und Journalisten wie Martin Mosebach, Matthias Matussek oder Alexander Kissler), werden es sich kaum zumuten, sich ihm zuzuordnen. Er beschreibt (oder behauptet) ein neu erwachtes Interesse der Welt an Religion und Kirche, das sich aus der Begegnung mit dem ganz Anderem speist. Aus Anlaß des Papstbesuchs in Bayern im September 2006 notierte Stephan Speicher in der Berliner Zeitung:

"Dieser Papstbesuch ist nicht unbedingt ein historisches Datum. Selbst die Bischöfe bereiten sich nicht auf eine Zeit massenhafter Kircheneintritte vor. Mit Grund wird von einem grassierenden Feuilletonkatholizismus gesprochen, einem Interesse an der Religion, dem der Ernst fehlt. … Die Kirche … kommt aus einer anderen Welt als der, mit der wir uns sonst herumschlagen."9

Dieser "anderen Welt" und der Attraktion, die von ihr ausgeht, haften in dreierlei Hinsicht etwas genuin Romantisches an10: Der Feuilletonkatholizismus ist rückwärtsgewandt, er zielt auf eine (unbestimmte) Zeit vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil; sein Revisionismus wird ästhetisch und nicht theologisch begründet; und seine Träger sind Intellektuelle, die sich - wie zahlreiche Vertreter der literarischen Romantik nach 1800 - in der zweiten Hälfte ihres Lebens neu oder erneut der Religion zuwenden.

Das Glaubensbekenntnis des Martin Mosebach

Eine exponierte Position in der öffentlichen Rede über den Feuilletonkatholizismus hat Martin Mosebach inne, der mit seiner 2007 neu aufgelegten Streitschrift "Häresie der Formlosigkeit. Die römische Liturgie und ihr Feind" (2002) als Gegenstand wie als Katalysator der Debatte fungierte - aus Anlaß der Verleihung des Büchner-Preises an Mosebach bezeichnete etwa Sigrid Löffler den Autor als "Wegbereiter und Wortführer" des "ästhetisierende(n) Feuilleton-Katholizismus"11.

Mosebachs "Häresie der Formlosigkeit" erschien erstmals 2002 in einem kleinen Wiener Verlag und wurde im Frühjahr 2007, um drei Aufsätze ergänzt, nochmals im Hanser Verlag veröffentlicht. Im Juni 2007 stand Mosebach als Georg-Büchner­Preis-Träger des Jahres fest. Und im September 2007 gehörte sein Roman "Der Mond und das Mädchen" zu den Anwärtern für den Deutschen Buchpreis. 2007 kann damit als überaus erfolgreiches Jahr für einen Autor gelten, der schon seit 1980 als freier Schriftsteller arbeitete, aber erst seit etwa der Jahrtausendwende mit seinen Arbeiten größere Beachtung fand. Dabei wurde gerade die Verleihung des renommierten Büchner-Preises an Mosebach als Symptom dafür gedeutet, "wie sehr der literarische Betrieb und die literarische Rezeption sich verändert haben"12. Mosebachs öffentliches Glaubensbekenntnis spielt hierfür eine nicht geringe Rolle. Es gründet, wie es im ersten Essay von "Häresie der Formlosigkeit" heißt, auf der "Begegnung mit der alten katholischen Liturgie"13.

Was er darunter versteht, hatte Mosebach bereits in seinem Roman "Eine lange Nacht" (2000) beschrieben. Unter der Überschrift "Die Prozession aus der Schiebetür" rückt er einen Auszug daraus in den genannten Essayband von 2002/2007 ein: Ort des Geschehens ist eine Kapelle in einem Frankfurter Hotel "am Rand eines Bordellviertels"; die Einrichtung des Raums zeugt eher von schlechtem Geschmack als von Kunstsinn ("über dem Altar schwebte ein Aluminiumkruzifix mit einem Corpus aus rotem Glasfluß wie eingetrocknete Erdbeermarmelade", 200); es riecht unangenehm, die Blumen auf dem Altar sind verfault. Der als Küster und Ministrant tätige Hermann Drais und sein Bruder Ludwig rüsten die Kapelle für den Gottesdienst: den Altar, die Kredenz, den Kelch. Auf diese Weise nähert sich der personale Erzähler (Ludwig) dem Geschehen von außen. Er dringt immer tiefer in die Handlung ein, indem er, angeleitet durch seinen Bruder, die heiligen Gegenstände zu benennen und zugleich "richtig" zu handhaben lernt, indem er mit dem Zelebranten in der Sakristei über die Liturgie und deren Reform spricht und indem er schließlich der Messe beiwohnt. In der detaillierten Beschreibung aus der Perspektive eines Nichtkenners vollzieht sich die Liturgie als Prozeß persönlicher Aneignung bzw. Anverwandlung.

Von Beginn des Textabschnitts an wird die Liturgie so als das Andere, als das am Rande der Gesellschaft Situierte eingeführt, als etwas Fremdes, als elitäre Veranstaltung, als das Verborgene, nur wenigen Eingeweihten Zugängliche. Sie verbindet sich nicht etwa mit der Person des Priesters, im Gegenteil: Weil der Priester die alte Messe mit dem Rücken zur Gemeinde zelebriert, schiebe sich seine "individuelle Gegenwart" (26) nicht zwischen die Laien und den heiligen Akt, wie dies im ordentlichen Ritus in der Haltung versus populum der Fall sei. Die überkommene Zelebrationshaltung wird damit zum sichtbaren Zeichen einer Rolle, die den Zugang zur - der irdischen Zeit enthobenen - Zeit der Liturgie vermittelt. Daß sich ausgerechnet der Zelebrant der alten Liturgie in der Frankfurter Hotelkapelle als Vertreter jener "fortschrittliche(n) Seelsorger" (26) entpuppt, die sich zur Idee einer (aus Sicht ihrer Anhänger) seit Jahrtausenden gültigen Form skeptisch bis herablassend verhalten, steht deren Wirksamkeit in der Darstellung des Essays demnach nicht entgegen. Vielmehr soll gerade dies die eigentliche Unabhängigkeit der Liturgie belegen.

Etwa spricht sich der Priester gegen die "schaurige Opfertheologie mit ihrem steinzeitlichen Blutgeruch" (207) aus, welcher der alten Liturgie anhafte. Ludwig aber, der in Glaubensdingen seinem Bruder zu folgen bereit ist, läßt sich davon nicht - oder nur kurz - irritieren. Daß sich die Lehren des Zweiten Vatikanums von Opfertheorien wie der "mystischen Schlachtung im Meßopfer" weitgehend losgesagt haben, erklären die Anhänger der alten Liturgie an dieser Stelle der Darstellung Mosebachs für nicht relevant. Es gehört zur Tragik von Mosebachs Bekenntnis, das sich für die Rechtmäßigkeit der eigenen als einer allgemeinen (d. h. katholischen) Position einsetzt, daß die damit eigenmächtig vollzogene Wendung gegen die gültige katholische Lehre selbst die Gefahr der Häresie birgt. Die Wiederzulassung des "alten Ritus" im Jahr 2007 durch das Motu proprio "Summorum Pontificum" als "außerordentlicher" Form der Messe mag den Reformgegnern ein wenig den Wind aus den Segeln genommen haben; ob allerdings ein Ritus, der nicht länger als verboten gelten kann und damit an Exklusivität eingebüßt hat, überhaupt noch interessant erscheint, wird sich zeigen.

Inszenierung des alten Ritus

Fest steht jedenfalls, daß es sich bei diesem Ritus keinesfalls um eine "seit über eintausendfünfhundert Jahren ununterbrochene überlieferte Form" handelt, wie es bei Mosebach heißt, der darin "die Erfüllung aller Religionen" (17) sieht. Vielmehr wird er, bezeichnet auch als "Tridentinische Messe", nach dem Missale Romanum von 1962 gefeiert und umfaßt seit seiner Festschreibung im Meßbuch Pius' V. von 1570 weitere Reformen durch die Jahrhunderte, insbesondere seit der liturgischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die auf eine stärkere Beteiligung der Gemeinde setzte. An diesen Gedanken knüpft der "neue Ritus" Pauls VI. an, der im Anschluß an die Liturgiekonstitution "Sacrosanctum Concilium" (1963) im Missale Romanum von 1970 niedergelegt ist14.

Wie Mosebach den alten Ritus inszeniert, ist interessant: Dieser vollzieht sich in einer geschmacklosen Umgebung, angeleitet durch einen wenig glaubwürdigen Priester, vor den Augen eines in die Geheimnisse der Messe uneingeweihten Beobachters. Auf diese Weise wird die Schlußwendung des Textauszugs um so wirksamer vorbereitet: Nach wie vor "verstand" Ludwig "tatsächlich nichts von dem, was sich um und vor ihm tat"; auf einmal aber geschieht es: Nach den Einsetzungsworten (die nicht zitiert werden, auch wenn, wie es heißt, der Priester "etwas vernehmlicher" "flüsterte"), während der Elevation der Hostie und dem dreimaligen Läuten des "Glöckchen(s)" (212), blendet Ludwig völlig aus,

"daß Hermann die Oblate aus der Holzdose auf den kleinen goldenen Teller auf dem Kelch gelegt hatte, er sah diese weiße Scheibe in der Rauchwolke gar nicht als etwas Materielles an oder jedenfalls doch als etwas sehr Zartes, verfestigtes Licht, einen stillen Augenblick lang. Dann senkten sich die Hände wieder, und Professor Gessner begann aufs neue flüsternd zu lesen …" (213).

Im performativen Akt der beobachteten Wandlung vollzieht sich das Wahre als Schönes ("Zartes, verfestigtes Licht") und wird zugleich als darin erlebbar und erfahrbar gezeigt. Ein Vorverständnis dafür ist nicht nötig.

In seinem Beitrag "'Dies ist mein Leib'. Zur Verehrung des Altarsakraments in der Katholischen Kirche" macht der Essayist deutlich, worum es ihm eigentlich geht: Er ist auf der Suche nach dem "Authentischen". Um dieses Authentischen willen scheut er auch nicht vor Falschaussagen zurück, etwa wenn er, um die Besonderheit seiner Position herauszustreichen, die (tatsächlich nie vollzogene) "Abschaffung der Hostienanbetung und Hostienverehrung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil" (181) behauptet. Explizit berichtet er davon nicht mit dem Expertenwissen des Theologen. Das stimmt. Dann nämlich müßte Mosebach genauer von der "eucharistischen Verehrung" sprechen; die Hostie selbst wird nicht - und wurde nie - angebetet. Stattdessen berichtet Mosebach davon mit dem Selbstverständnis eines Erzählers, der das Geschehen um sich herum beobachtet. Die "beobachtete Realität" aber, so Mosebach, habe vor allem dann "ein ganz anderes Gewicht", "wenn ich sie nicht begreife" (180).

Zum einen wendet sich Mosebach gegen Vorbehalte, er vertrete eine ästhetizistische Position (er sei "also ein Ästhet, der seine ästhetizistischen Bedürfnisse in der Religion befriedigen will", 9). Zum anderen erklärt er in einem seiner Essays die Liturgie selbst zur Kunst. Welche Merkmale kommen ihr nach Mosebach zu? Welche Funktion übernimmt sie? Mosebach nennt sie "anschaulich" und "gestalthaft", "körperlich" und "vollplastisch"; ihre unmittelbare Präsenz sei "Ehrfurcht" gebietend, kulturhistorischer Relativierung sei sie entzogen, kurz: sie sei "schön" (102 f.). Etwas Schönes aber - so der klassische Schönheitsbegriff Mosebachs - bedarf keiner Begründungen außerhalb seiner selbst, ist in sich stimmig, sich selbst genug.

Mit anderen Worten: Indem Mosebach den Ästhetizismus-Vorbehalt auszuhebeln behauptet, argumentiert er doch ästhetizistisch. Wieder tritt der Autor nicht als Theologe auf, er spricht "aus einer bestimmten Lebenserfahrung heraus" (103), wie er sagt. Aus guten Gründen: Er müßte ansonsten konzedieren, daß, theologisch gesehen, die Liturgie Instrument des Gottesdienstes ist, für sich selbst aber nichts gilt: "Nihil Operi Dei praeponatur" (Nichts soll dem Gottesdienst vorgezogen werden), heißt es in der Regel des Hl. Benedikt, auch nicht die Liturgie.

Für Mosebach also ist die alte Liturgie "ein Kunstwerk" und Jesus Christus selbst - als ihr "Schöpfer" - ein "Künstler" (104). Am Tag des Letzten Abendmahls etwa ("Gründonnerstag") habe dieser Künstler einen neuen Ritus gestiftet, ohne dabei das Überkommene grundlegend zu verändern. Das Neue des Ritus ("Dies ist mein Leib") erwachse gleichsam natürlich, beinahe unmerklich, aus dem Alten, dem Paschamahl der jüdischen Tradition: "(E)r ändert nichts, aber er erfüllt mit einem neuen Geist". Weil Christus dem eigenen Opfer "die Gestalt liturgischer Kunst" (109) gegeben habe, sei auch "nur die Kunst", so Mosebachs Schlußfolgerung, dazu in der Lage, "dem Auftrag Christi beim Gründonnerstagsmahl zu entsprechen. Dieser Auftrag ist die Memoria, die immer aufs neue wiederholte Vergegenwärtigung des zu unblutiger Gestalt von Christus geformten eigenen Opfers" (108). In diesem Verständnis der Liturgie zeichnet das Opfer (und nicht die Liebe Gottes, die eines Opfers nicht bedarf) für die Erlösung des Menschen verantwortlich, sublimiert in der Kunst.

Damit wendet Mosebach den Vorbehalt des Ästhetizismus in einen Ästhetizismus als Glaubensbekenntnis. Kriterien für die Bestimmung dieses Schönen als Schönen kann er aus seiner Sicht schuldig bleiben, weil sie sich aus der "Wirkung" des Ritus auf den Betrachter ergeben. Das Alte, das heißt das Lateinische, das "Unentschlüsselbare", dem man sich "wahrhaft gedankenlos" "einschmelzen" (9) könne, sei schön und wahr; das Neue, das heißt der Ritus nach der Liturgiereform der 60er Jahre, sei häßlich und damit verlogen und unwahr.

Einmal abgesehen davon, daß sich dieser Argumentation zufolge das Unverständliche als Heiliges in erster Linie dem erschließen wird, der das Lateinische nicht beherrscht (wodurch das Elitäre des Ansatzes unversehens ins Populäre abrutscht) - problematisch an Mosebachs Position ist vor allem, daß sie nichts neben sich gelten läßt. Das macht insbesondere die polemische Rhetorik der Essays deutlich15. Mosebach definiert das über Jahrhunderte gewachsene sogenannte Neue als ein Gegenüber, das es zu bekämpfen gilt. Er nimmt eine per definitionem als fundamentalistisch zu bezeichnende Haltung ein und wendet sich damit zugleich gegen die katholische Kirche selbst, der er als der "offiziellen Kirche" (14) vorwirft, in den 60er Jahren einen "Angriff auf die Göttliche Liturgie" (18) gestartet zu haben.

Die antikirchliche Haltung dieses ästhetischen Katholizismus der Jahrtausendwende bestätigt sich auch in Mosebachs Bekenntnis, "Animist" (13) zu sein, also die Beseeltheit der anorganischen und organischen Natur anzunehmen. Was seine Streitschrift anbietet, ist mithin eine weitere Form der derzeit verbreiteten "Patchwork-Religionen", die, in seinem Fall, problemlos Elemente des vorvatikanischen Katholizismus mit (bevorzugt magischen) Elementen von Naturreligionen kombinieren und sich zugleich insbesondere für eine elitäre Kultpraxis interessieren:

"Der Zusammenbruch der Liturgie in der offiziellen (!) Kirche hat auch etwas Gutes", so Mosebach: "Der Ritus ist jetzt wieder ein wirkliches Mysterium, in dem Sinne, daß er, wie eigentlich auch vorgesehen (!), im Verborgenen gefeiert wird" (14).

Von Gottes- und Nächstenliebe ist bei diesem Katholizismus nicht die Rede - Jens Schmitz bezeichnet ihn treffend als "selbstbezogene(n) Wellness-Glaube(n) ohne Konsequenzen in der Welt"16. Christliche Inhalte spielen dabei keine Rolle; vielmehr geht es um die Form und um den "Eindruck" (15), der sich bei der Betrachtung der Form als Schauspiel einstellt.

Ein neuer Kulturkatholizismus?

Dieser "neue Kulturkatholizismus"17, wie Gustav Seibt das Phänomen auch nennt, ging nach 2000 konform mit den unter anderem in Philosophie, Theologie und Sozialwissenschaften diskutierten Thesen von der "Wiederkehr der Religion(en)" in der Gegenwart. Er gehört zu den Symptomen der veränderten Rede vom Prozeß der Säkularisierung18. So ist etwa von einer "De-Säkularisierung" (Peter L. Berger) zu lesen, einer "Re-Spiritualisierung" (Matthias Horx), einer "De-Privatisierung" (José Casanova) aller Lebensbereiche oder auch von der "Rückkehr der Religionen" (Martin Riesebrodt)19. Zu Recht gehen einige Beobachter davon aus, daß diese Entwicklungen selbst Teil des Prozesses der Säkularisierung sind, diesem also nicht zuwiderlaufen20.

Nach Charles Taylor ist der Status einer dritten Form von Säkularität dann erreicht, wenn der (christliche) Glaube als eine Option unter vielen anderen - religiösen oder nichtreligiösen - Optionen existiert und akzeptiert wird. Genau dies beschreibe die Situation des 21. Jahrhunderts, in der ihr "Glaube auch für besonders religiöse Menschen nur eine menschliche Möglichkeit neben anderen ist"21. Dabei ist die Entscheidung für oder gegen Religion im Zeitalter von "Säkularität 3" stets dem Primat der Selbstverwirklichung unterworfen, und die Forderung nach Individualität in der Wahl bestimmt auch den Meinungsbildungsprozeß in der je eigenen Haltung zur Religion.

Wenn nun aber die Individualisierung des Umgangs (unter anderem) mit Religion zu deren Merkmalen gehört, liegt es nahe, zur soziologischen Erklärung des Feuilletonkatholizismus das Modell der Erlebnisgesellschaft heranzuziehen22. Im Mittelpunkt steht die Erlebnisorientierung des auf Selbstbeschäftigung verwiesenen einzelnen, der sich der Zumutung unentwegt auf ihn einströmender Möglichkeiten ausgesetzt sieht. Er vermag sich dieser nur dadurch zu erwehren, daß er sie sondiert und eine je eigene - an der Steigerung von "Genuß"23 orientierte - Auswahl trifft.

Trost für eine transzendental obdachlose Welt?

Auch der Feuilletonkatholizismus folgt dem "Imperativ" der Erlebnisgesellschaft, den Stephan Porombka auf den Punkt bringt: "Verwirkliche Dich selbst durch Deine Wahl"24. Ergebnis ist eine Patchwork-Religion, die sich (dem Synkretismus der postsäkularen Gesellschaft entsprechend) für das je eigene Programm Brauchbares aus unterschiedlichen Angeboten zusammensammelt - die Religionswissenschaften haben dafür den Oberbegriff der "vagierenden Religiosität" geprägt, die neben anderen Formen auch das Modell einer "Intellektuellen-Religiosität" kennt25.

Davon ausgehend verwundert es also nicht, daß Mosebachs Forderungen nach einer Revision der sogenannten Tridentinischen Messe kein konsequentes Plädoyer für einen vorkonziliaren Katholizismus enthalten, sondern mit einem ganz eigenen (individuellen) Synkretismus auf den für die postmodernen Gesellschaften allgemein diagnostizierten Werteverlust reagieren. Die Entscheidung für eine elitäre Kultform, die bestimmten (nämlich unpopulären) ästhetischen Ansprüchen genügt, bietet aus feldtheoretischer Perspektive zugleich einen enormen Standortvorteil.

Religion übernimmt damit zum einen die Funktion, das Besondere der je individuellen Wahl gerade auch im intellektuellen Milieu herauszustellen, um auf dem Markt der Möglichkeiten eine Aufmerksamkeit sichernde Position zu besetzen. Zum anderen sorgt sie für eine möglichst stabile eigene Selbstbeschreibung gegen die postmoderne "Wurschtigkeit"26 in einer transzendental obdachlosen, zunehmend unübersichtlichen und gleichwohl weiterhin trostbedürftigen Welt.

Daß der Feuilletonkatholizismus ein nicht auf allgemeinen Konsens zielendes Programm entwirft, trägt also nicht zuletzt zur Entlastung vom Druck des genannten Wahlimperativs bei. Er verspricht den Anschluß an höhere überzeitliche Wahrheiten und erfindet dafür eine Institution, die es so nie gegeben hat: das Konstrukt einer vorkonziliaren katholischen Kirche. Indem es neue Verbindlichkeiten einklagte, reagierte dieses Konzept auf den postmodernen Pluralismus mit seinen aktuell gängigen Verfalls- oder Verlustdiagnosen und traf damit in der Tat so etwas wie einen Nerv der Zeit: Jedenfalls feierte der Feuilletonkatholizismus im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends durchaus einige Erfolge. Anders gesagt: Der sich unter anderem mit Mosebach im bürgerlichen Habitus inszenierende Revisionismus war, bezogen auf den Zeitgeist dieser Jahre, gleichsam der neueste Schrei der Erlebnis- oder auch "nachbürgerlichen Wissensgesellschaft".

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