Die Türkei - aus deutscher Sicht

Wir schauen von Deutschland aus auf die Türkei. Unseren Blick trüben Reflexe. Erdogan lässt Journalisten verhaften, er feuert Tausende Richter, blockiert Professoren. Er schreit im Namen seines Volkes, das ihm millionenfach zujubelt. Wir sehen das aus Deutschland und denken: „Machtergreifung“. Unsere demokratischen Reflexe schlagen Alarm. Das brandgefährliche Handlungsmuster Erdogans habe ich in den letzten Monaten oft beschrieben.

Recep Tayyip Erdogan lebt von der Polarisierung. Denn für sein autoritäres Projekt braucht er Feinde. Dann kann er sagen: Entweder die oder wir! Gesellschaftliche Versöhnungsprozesse geraten so ins Stocken. Klare Fronten braucht es, geschlossene Reihen. Erdogan lebt vom Populismus. Das fromme Volk müsse eine mächtige Elite abschütteln. Deren Verschwörung lasse sich mit einleuchtenden Theorien durchschauen. Der Feind ist jetzt nicht mehr die laizistische Elite der Atatürk-Erben. Der Feind heißt jetzt Fethullah Gülen. Ein Prediger im Pensionsalter mit Synthese-Botschaften aus Islam und Moderne soll staatsgefährdend sein? Was eben noch als neue islamische Spiritualität türkische Herzen zu Tränen rührte, soll plötzlich eine Terrororganisation vom Kaliber der PKK und des „Islamischen Staates“ sein? Den Einrichtungen der Gülen-Bewegung - in unseren Breiten bestens beleumundet - wurden Scheiben eingeworfen: Säuberungsaktionen, Verhaftungswellen, Volkszorn. Wir sehen das aus Deutschland und denken: „Judenhetze“.

Zu beklagen ist ein weltweiter Missbrauch religiöser Identitätstraditionen und das Wuchern von instrumentalisierter Fremdenfeindlichkeit, Nationalegoismus und Entsolidarisierung. Wir sehen Modi, Putin, PiS, Fidesz und die AfD, Brexit und Trump und denken: Ah - und natürlich auch Erdogan. Jede einzelne Einschränkung der Pressefreiheit, jede noch so verborgene Maßnahme gegen die Rechtsstaatlichkeit, jeder verhetzende Slogan gehört dokumentiert und dechiffriert. Wir Deutschen warnen aus Erfahrung, weder gehässig noch selbstgerecht. Wir warnen, weil wir schmerzlich gelernt haben, das Gut von gesellschaftlichem Vertrauen in gesprächsbereiter Verschiedenheit und die gelassen-sachliche Lösungsorientierung hochzuschätzen. Weil wir wissen, wie schnell die Freiheit verloren ist.

Wenn wir aber auf die Türkei blicken, müssen wir auch sehen, dass die Menschen dort noch andere Erinnerungen und Ängste mit sich herumtragen. Selbst der Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk hat nicht nur aufgeklärt und befreit. Er hat zivilgesellschaftliche Selbständigkeiten diktatorisch erstickt, gerade im Religiösen. Zwischen 1960 und 1980 musste dann die Bevölkerung drei Militärputsche über sich ergehen lassen. Armut, Aussichtslosigkeit und ein vergiftendes Misstrauen prägten jahrzehntelang den türkischen Alltag. Ein Bann lag im öffentlichen Raum auf dem Kopftuch und machte es überhaupt erst zum Signal, mit dem sich Hysterien provozieren und Animositäten demaskieren ließen. Unter Erdogan ist das Land zu wirtschaftlichem Erfolg gekommen, aber auch zu größerer kultureller Pluralität und zu einer gewissen gesellschaftlichen Einheit. Die AKP-Regierungen sind nicht spaltender, autoritärer oder brutaler als ihre religions-allergischen Vorgänger. Im Westen sehen die Türken eine Europäische Union, von der man sich betrogen fühlt - aus Islamophobie. Die Ablehnungsgründe seien schlecht getarnte Ressentiments.
Im Osten sehen die Türken Syrien. Hier hatte die Assad-Dynastie eine Art DDR-Diktatur aufrechterhalten, aber auch eine für die vielen ethnisch-religiösen Gruppierungen lebbare Ordnung. Bis der Ruf nach Freiheit, vermengt mit Machtinteressen rivalisierender Völker und islamistischer Kampfideologien, das Land in eine Kriegshölle stürzte. Ihr Ende ist nicht absehbar.
Der diesjährige Putschversuch sei ein Gottesgeschenk, sagt Erdogan. Per Smartphone hat er einen erneuten Staatsstreich vereitelt. Nach bisherigem Kenntnisstand waren die Ereignisse des 15. Juli 2016 nicht inszeniert. Nun jubeln Millionen Türken: in Anatolien, in Istanbul, auch hierzulande. Die kemalistischen und nationalistischen Konkurrenten werden eingeladen mitzujubeln. Nur die Kurdenpartei muss draußen bleiben. Wir sehen das und denken: „Reichsparteitag“.

Gönnen wir der Türkei ihre Erleichterung nicht? Erdogans „Gottesgeschenk“ ist eine neue Geschlossenheit der Bevölkerung. Maßnahmen zur Totalisierung der Staatsmacht und zur Verhinderung eines Kurdenstaates erscheinen derzeit geradezu als Volkswille.

Wir werden weiter warnen. Wir werden die Millionen türkischer Staatsbürger nicht aus dem Blick verlieren, die jetzt nicht jubeln können. Wir werden die pauschale Verfolgung des Gülen-Netzwerks (Hizmet) hinterfragen. Sie aber als Sündenbock- Beschaffung und Hexenjagd zu brandmarken, ist ebenfalls zu pauschal. Viele, die sich von Gülen inspirieren lassen, leisten echte Beiträge zu einer Verständigungskultur. Für die Kirchen und die Mitverantwortlichen in Hizmet-Bildungseinrichtungen sind sie integre, kompetente Gesprächspartner. Sollte die Hasswelle nicht abebben, verdienen sie den Schutz nicht nur des Rechtsstaates, sondern speziell kirchlicher Vertreter und Einrichtungen. Jedoch ist auch hier ein kritischer zweiter Blick nötig: Hizmet agiert systematisch intransparent. Der Leitungskader wird offenbar in Sekten-Manier rekrutiert, man tarnt seine Zugehörigkeit bis ins Gewissenlose, ein Gang durch die Institutionen des türkischen Staates scheint schlicht ein politisches Macht-Projekt zu sein.

Wenn die EU die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei abbricht, ist sie selbst in die Polarisierungsfalle getappt. Der Weg ist mühsam. Das Ziel ist ein gemeinsamer Raum verlässlicher Rechtsstaatlichkeit; und die oberste Tugend für unterwegs heißt: kriterientreue Verfahrenstransparenz. Mit ihr lassen sich auch kritische Anfragen unterscheiden von angstmacherischen Projektionen.

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