Deus lo vult – Allahu AkbarHat religiös motivierter Terror nichts mit Religionen zu tun?

Hat religiös motivierter Terror mit Religionen nichts zu tun? „Das alles hat nichts mit Religion zu tun.“ Dieser Satz ist immer zu hören, wenn wieder eine schreckliche Mordtat mit islamistischem oder anderem religiösen Hintergrund die Öffentlichkeit aufschreckt. Wer so spricht, meint in der Regel folgendes: Krieg, Gewalt, Terror und Mord werden zwar im Namen von Religion ausgeübt, aber es handelt sich dabei nur um Instrumentalisierungen, um Zweckentfremdungen von Religion. Die jeweilige Religion ist davon streng zu unterscheiden.

Für eine religiöse Kritik des religiösen Fanatismus

Richtig ist: Es gab und gibt Instrumentalisierung von Religion für die Legitimation von Gewalt. Und vielleicht ist tatsächlich die Gewalt, die von Religion legitimiert wird, die am meisten enthemmte Gewalt, weil sie sich auf eine absolute Legitimationsinstanz beruft, wie sie höher nicht mehr gedacht werden kann.
Beispiele aus der Geschichte gibt es in beliebiger Anzahl. Ich zähle einige Klassiker auf: Die Landnahme Israels nach dem Exodus aus Ägypten war ein zweihundertjähriger Prozess, auch mit Kriegen und Massakern, wie sie beispielsweise das Buch Josua bezeugt. In der Spätantike wurde Häresie von der christlichen Staatsreligion unter Todesstrafe gestellt. Im Mittelalter wurden Waldenser, Albigenser und andere Häretiker massakriert, ganz zu schweigen von Pogromen an der jüdischen Bevölkerung. Mohammed vertrieb aus Medina zwei jüdische Stämme und vernichtete den in Medina verbliebenen dritten Stamm komplett. Die Kreuzfahrer begaben sich mit dem Ruf „Deus lo vult“ („Gott will es“) auf die Fahrt ins Heilige Land und metzelten bei der Eroberung Jerusalems die muslimische Bevölkerung nieder. Soldaten zogen noch im letzten Jahrhundert in den Krieg mit Gürteln, auf denen zu lesen stand: „Gott ist mit uns.“ Massenmörder wie Hitler, Stalin und Mao ließen sich wie Götter verehren und luden ihre atheistischen Ideologien mit religiösem Vokabular auf. Suizidmörder zünden ihre Sprengsätze heute mit dem Ruf „Allahu akbar“ („Gott ist am Größten“) auf den Lippen. Das alles ist je nach historischen Umständen zwar erheblich zu differenzieren, aber es ist jedenfalls Gewalt im Namen von Religion. Aber folgt aus dem Missbrauch von Religion, dass der Missbrauch nur ein Problem der Missbraucher ist und nicht der missbrauchten Religion selbst?
Heute wird der Nahe und Mittlere Osten vom islamistischen Terror erschüttert, und mit ihm der Westen, der in die Geschichte der betroffenen Länder verstrickt ist. Allein schon die Verstrickung gestattet es dem Westen nicht, bloß von außen auf den Terror zu blicken. Der Blick von außen tut so, als seien die anderen das Problem. Doch die Gewalt findet in geschichtlichen Kontexten, in ökonomischen und andern Interessenszusammenhängen statt, ohne die sich die Gewalt gar nicht verstehen lässt. Dasselbe gilt in diesem Zusammenhang auch für den Aspekt der religiösen Legitimation von Gewalt.
Zur Aufarbeitung von Missbrauch in Institutionen und Systemen aller Art gehört, das System selbst in die Aufarbeitung mit einzubeziehen. Das kann man schon bei anderen Formen von Missbrauch beobachten: Dieselskandal, Bankenskandal, Missbrauchsskandal in der Kirche oder in der Film- und Fernsehbranche. Bloß mit dem Finger auf Einzeltäter zu zeigen wird dem Phänomen nicht gerecht. Das gilt auch für die religiösen Systeme, in denen Texte oder die Autorität von einzelnen Personen und Gruppen für Terror und Gewalt missbraucht werden. Es reicht nicht, auf die einzelnen Täter oder die einzelnen sektiererischen Gruppen zu zeigen. Es stellen sich zugleich Fragen an die Systeme, aus denen sie kommen: Wo sind die Anknüpfungspunkte in der jeweiligen religiösen Tradition für den Horror der Gewalt im Namen Gottes? Wie ist diese Verwechslung möglich, der die frömmelnden Mörder unterliegen, die meinen, Gott zu dienen, wenn sie andere töten, oder die meinen, Gott zu dienen, wenn sie sich töten, um andere zu töten?
Man könnte einwenden, dass religiöse Fanatiker zwar Sektierer im vollen Sinne des Wortes sind – dass sie also tatsächlich glauben, Gott zu dienen, wenn sie morden –, dass sie aber wiederum ihrerseits Verführte sind, verführt von solchen Personen oder Gruppen, die andere Personen fanatisieren, um sie für ihre eigenen außerreligiösen Zwecke zu missbrauchen. Nun mag es in vielen Fällen tatsächlich auch zutreffen, dass die Drahtzieher hinter den religiösen Fanatikern Zyniker sind, denen es bloß um Macht, Öl, Geld oder um taktische Vorteile in einem großen geostrategischen Machtspiel geht. Beispiele dafür gibt es genug. Ich lasse offen, ob eher ein kalter Zyniker oder eher ein heißer Sektierer im Herzen der Finsternis wohnt. Vielleicht hausen auch beide zusammen darin. Ich weise allerdings darauf hin, dass es gerade die Sektierer sind – mehr als die Zyniker –, die andere Personen erfolgreich fanatisieren, gerade deswegen, weil sie selbst an das glauben, wozu sie andere verführen.
Ein Zyniker gürtet einen jungen Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürteln und denkt sich dabei: „Der arme Tropf glaubt tatsächlich, für diese Aktion in den Himmel zu kommen; ich mache mir diesen dummen Glauben zunutze.“ Ein Sektierer hingegen gürtet den Täter im Glauben daran, dass der Täter, den er gürtet, tatsächlich für seine Tat von Gott belohnt wird. Das verbindet ihn ganz tief mit Deus lo vult – Allahu Akbar 313 dem Täter. Der Sektierer ist deswegen in seiner Wirkung auf den Verführten noch überzeugender als der Zyniker. Er verschmilzt mit ihm zu einer Blutsbruderschaft. Aus den Berichten von Menschen, die sich auch im Westen vom IS fanatisieren ließen, wissen wir, dass es gerade die Erfahrung der Bruderschaft, das Erlebnis einer verschworenen Gemeinschaft ist, das sie anzieht.
Ich bestreite also, dass man Sektierertum und überhaupt religiösen Fanatismus reduzieren könne auf nicht-religiöse Interessen und Strategien, die „eigentlich“ dahinter stehen. Das tun aber diejenigen, die behaupten, Gewalt im Namen Gottes habe „nichts mit Religion zu tun“. Es gibt einen religiösen Kern im Fanatismus, der nicht auf trans-religiöse Ursachen reduziert werden kann. Wir müssen uns schon mit der Religion auseinandersetzen, wenn wir religiös motivierte Gewalt verstehen und bekämpfen wollen.

Identität und die besondere Gefährlichkeit der Apostaten

Einen zweiten Grund führe ich gegen die Behauptung an, Gewalt im Namen Gottes habe nichts mit Religion zu tun. Der Ägyptologe Jan Assmann hat die viel diskutierte These aufgestellt, Religionsgewalt im eigentlichen Sinne beginne erst mit der „mosaischen Unterscheidung“ zwischen „wahr“ und „falsch“ in der Religion. Erst durch diese Unterscheidung sei in der Religionsgeschichte ein Gegenüber entstanden, das bekämpft werden müsse, die Figur des „Ungläubigen“. Der Gott des Dekalogs verlange Bekenntnistreue zu sich als dem einzigen Gott. „Der Herr“ dulde keine anderen Götter neben sich. Der Monotheismus mit seinem Wahrheitsanspruch sei also das eigentliche Problem, und im Gefolge der „mosaischen Unterscheidung“ also auch und vor allem das Christentum und der Islam.
Inzwischen hat Assmann seine These modifiziert und auch weiterentwickelt. Es bleibt sein Verdienst, dass er die Frage nach den Ursachen der Gewalt eng mit der Frage nach dem Selbstverständnis von Religionen verknüpft, insbesondere den monotheistischen. Man kann seiner Frage nicht ausweichen. Es lohnt sich, sich ihr zu stellen – wie so oft bei offenen Fragen: Die Auseinandersetzung führt zu weiterführenden Kollateral-Erkenntnissen. Der Münsteraner Kirchenhistoriker Arnold Angenendt stellt fest: „Gewalt hat es schrecklicherweise genug gegeben, aber […] nicht zuerst gegen die Andersgläubigen, sondern gegen die eigenen Abtrünnigen […] Hier also ist Assmanns Urszene der Gewalt anzusetzen mit ihren Strömen von Blut: Schon das Schwert des Mose traf die Anbeter des Goldenen Kalbes als von JHWH Abgefallene. Später, als in Jerusalem noch die Christen zur Tempelgemeinde zählten, wurde der Grieche Stephanus wegen Tempelkritik gesteinigt, ebenso der Herrenbruder Jakobus der Ältere hingerichtet.“
Angenendt fährt fort: „Dasselbe Muster der Tötung von Abgefallenen verfolgte auch der Islam. Der Koran noch mahnte, „dass niemand über den wahren Glaube Klaus Mertes SJ eines Glaubensbruders urteilen könne.“ Es sollte darum ein Apostat nicht bestraft oder getötet werden, sondern nur mit Sanktionen belegt werden, etwa keine freundschaftlichen Beziehungen mehr mit ihm zu pflegen. Dennoch kam bald die Meinung auf, ein jeder, der eine große Sünde begangen habe, sei ein Ungläubiger und darum zu töten. Der Senior der angelsächsischen Islamforschung Bernard Lewis bestätigt: Die Regeln der Kriegsführung gegen Apostaten seien im Vergleich zu denen eines Krieges gegen „Ungläubige“ strenger gewesen; denn „ein Apostat ist ein ehemaliger Gläubiger, der vom wahren Glauben abgefallen ist.
Und was das Christentum betrifft: „Eine gewaltsame Eliminierung der Abweichler und Abtrünnigen wurde abgelehnt […] Gleichwohl stimmten die Christen, so sehr sie zunächst auf körperliche Gewalt in Religionsdingen verzichten wollten, den spätantiken Kaisergesetzen zu, die den Glaubensabfall mit dem Tod bedrohten.“1 Spätestens damit beginnt die bereits erwähnte Gewaltgeschichte des Christentums. Sie führt schließlich in die nachreformatorischen Glaubenskriege, in die Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges, einen Krieg, der zu Recht mit den heutigen Erschütterungen im Nahen und Mittlernen Osten verglichen wird. Und auch diese sind ja nicht ohne den Bruderzwist zwischen Sunniten und „apostatischen“ Schiiten zu verstehen.
Offensichtlich kommt die größte Bedrohung für die religiösen Fanatiker nicht von außen, sondern von innen. Sektierer fürchten sich vor nichts mehr als vor den Verrätern in den eigenen Reihen. Auf sie zielt die Gewalt mit der größten Wucht. Der Hass gegen die „Ungläubigen“ hat seine tiefste Wurzel in der Angst davor, dass die „Ungläubigen“ die Gläubigen, also Personen aus den eigenen Reihen, zum Glaubensabfall motivieren könnten. Die Verhinderung der Apostasie ist das Kernanliegen. Gerade deswegen kann man aber auch nicht sagen, dass Gewalt, Mord und Terror im Namen von Religion nichts mit Religion zu tun habe. Vielmehr ist religiös motivierter Terror Ausdruck einer tiefen Verunsicherung im gesamten religiösen System. Überwinden lässt sich die Verunsicherung nur, wenn der Diskurs über die Frage nach der religiösen Identität nicht nur bei den einzelnen fanatisierten Personen ansetzt – zumal diese in der Regel weder diskursfähig noch -willig sind –, sondern auch im kulturell-religiösen Umfeld. Die Verunsicherung, die Angst, die sich bei den Fanatikern zur Panik als Grundstimmung steigert, ist die Spitze eines Eisbergs. Die Angst kriecht von untem, von dem Eisbergteil unter Wasser hoch nach oben.
Gewalt im Namen Gottes ist jedenfalls kein Zeichen von Glaubensstärke. Angst vor Identitätsverlust, nicht Glauben ist der Nährboden für Hass und Gewalt.2 Sie kann gerade da noch angesprochen und reflektiert werden, wo sie noch nicht den Aggregatzustand des Fanatismus erreicht hat.

Martyrium und Gewalt

Im Resonanzraum des Fanatismus findet die stärkste religiöse Aufladung von Gewaltakten dadurch statt, dass sie mit dem Begriff des „Martyriums“ verbunden werden – wenn also Gewalttäter nicht nur für Gott töten, sondern auch für Gott sterben. Die Aufladung findet auch in säkularen Kontexten statt, wenn etwa im Kampf gefallene Soldaten als „Märtyrer“ bezeichnet werden. Die jüngere Geschichte des islamistischen Terrors beginnt ebenfalls säkular. Ihr unmittelbares Vorbild waren die japanischen Kamikaze-Flieger im Zweiten Weltkrieg. Im linken palästinensischen Terror der 70er-Jahre waren bereits religiöse Metaphern zu hören, obwohl die tragende Ideologie eigentlich säkular war: „Freunde, wie süß ist der Geschmack des Todes, wenn er sich mit der Luft meines Landes vermählt“, und: „Der Tod auf dem Weg zum Ziel ist der Beginn eines neuen, wunderbaren Lebens.“ So steht es im Testament eines der PLFP-Attentäter von Kirjat Schmona zum Massaker vom 11. April 1974. An solchen Metaphern knüpften säkulare Bewegungen wie die Nationale Syrische Partei (SSNP), die tamilische Befreiungsorganisation LTTE, die palästinensische Fatah sowie ab 1996 die kurdische PKK, an.3 Sie bildeten dann die Brücke von den säkularen Fedayin („Selbst-Aufopferer“) zu den explizit religiös motivierten Suizid-Morden und Suizid-Massakern.
Der „Märtyrer“, der sich tötet, um zu töten, hebt die Unterscheidung zwischen Person und Waffe auf. Die Person wird zur Waffe. Waffen haben eigentlich den Sinn, Distanz zwischen Personen zu schaffen, um aus der Distanz töten zu können. Distanz ermöglicht zugleich auch Schutz – jedenfalls für die Person, die die Lanze wirft oder den Pfeil vom Bogen abschießt. Der Inbegriff der Distanz-Waffe ist die ferngesteuerte Drohne. Irgendwo auf dem einen Kontinent sitzt eine Person vor Bildschirmen, beobachtet Bewegungen von Menschen in vielen tausend Kilometern Entfernung auf einem anderen Kontinent und drückt auf den Knopf, wenn dort ein Feind identifiziert wurde. Der „Märtyrer“ hingegen, der sich selbst zu Waffe macht, verhöhnt gleichsam durch sein Tun die Person vor dem Bildschirm. Er setzt das Prinzip der Distanz außer Kraft und verlacht die dahinter steckenden Bedürfnisse im Gefühl der eigenen heroischen Überlegenheit. Das macht auch einen Teil seiner Faszination und Anziehungskraft für anfällige Gernegroße aus.
Die Pseudo-(Suizid-)Märtyrer setzen darüber hinaus auch die Annahme außer Kraft, dass die Erhaltung des eigenen Lebens das rationale Prinzip sei, über das sich Menschen und im Ernstfall der Ernstfälle auch Feinde miteinander verständigen können. Allerdings täuschen sie sich über sich selbst, wenn sie ihr Verhalten für selbstlos halten. Suizid-Märtyrer rechnen den ethischen Egoismus bloß in den Himmel hoch. Sie meinen, es sei in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse, als Märtyrer zu sterben, da sie dafür im Himmel belohnt werden wie nimand sonst. So wird der Tod etwas Erstrebenswertes.
Tendenziell suizidale Martyriums-Sehnsucht ist auch in der christlichen Tradition nicht unbekannt. Spuren solcher Martyriums-Idealisierung lassen sich sogar bis in den heißen Kern der christlichen Bekenntnisbildung verfolgen, in der es ja darum geht, den gewaltsamen Tod Jesu als Martyrium theologisch-heilsbringend zu deuten. Ein Schüler fragte mich vor einigen Jahren im Religionsunterricht: „War der Tod Jesu ein Suizid?“4 Genau das ist eine der Fragen, die zu bedenken ist. Wenn der Tod Jesu als Suizid gedeutet wird, und sei es als Suizid in bester Absicht – die bewusste Provokation der eigenen Tötung zum guten Zweck der Erlösung der Menschheit –, und wenn die anschließende Auferstehung als Lohn für diese Leistung verstanden wird, dann ist die Türe offen für weiter gehende Missverständnisse. Diese können so blind machen, dass es sogar möglich wird und ja auch wurde, ausgerechnet im Zeichen des Kreuzes religiös legitimierte Gewalt auszuüben. Wenn Islamisten heute nur von den „Kreuzfahrern“ sprechen, so hat das eben auch mit dieser Geschichte zu tun, die ihrerseits nun zu einem kollektiven Opfermythos aufgebläht wird, um so neue Gewalt legitimieren zu können.
Jedenfalls: Der Missbrauch des Martyriums-Begriffs ruft zu einer Überprüfung desselben auf. Auch die scheinbar harmloseren Varianten geraten dabei in den Blick, da auch sie der Spalt in der Tür sind, in die der Fanatismus seinen Fuß setzt. Der scheinbar einfachere Weg wäre, den Martyriums-Begriff ganz zu verabschieden. Aber dann hätte man sich auch aus dem Deutungskampf um die Sache selbst verabschiedet. Man überließe die Diskurse den Verführern, den Blendern und den Elefanten im Porzellanladen – was allein schon unter dem Blickwinkel der Prävention unverantwortlich wäre.
Deswegen kurz ein paar Klärungen: „Märtyrer“ töten nicht, auch nicht sich selbst, sondern werden getötet. Die Verantwortung für den Tötungsbeschluss und den Tötungsakt liegt bei den Mördern. Von „Martyrium“ kann auch nicht die Rede sein, wo eine Person den Tötungsbeschluss gegen sich absichtlich provoziert. Möglicherweise geht sie bewusst durch ihr Handeln das Risiko ein, getötet zu werden. Aber das ist keine absichtliche Provokation der Tötung. Als die Autoren der „Weißen Rose“ in München Flugblätter gegen die Nazis verteilten, wussten sie, dass sie damit ihr Leben riskieren. Trotzdem tragen sie nicht die moralische Verantwortung dafür, dass sie zum Tod verurteilt wurden. Und: Auch im anderen klassischen Fall des Martyriums, der Verweigerung gegenüber einem Unrechtsbefehl, provoziert die Person nicht ihren Tod. Vielmehr legt sie durch ihre Verweigerung „Zeugnis“ (martyria) ab – für das Recht, für die Nächstenliebe, gegen Diktatur und Unterdrückung.
Eine ganz andere Sache ist die Zustimmung des Märtyrers zur Situation des anstehenden, wahrscheinlichen oder sicheren Martyriums. Sie ist gehört zentral zum Martyriums-Begriff dazu, weil sie den Märtyrer unterscheidet vom bloß passiven Gewaltopfer. Die Geschwister Scholl kämpfen in den ersten Verhören vor der Gestapo noch um ihr Leben, aber als die Beweislast für ihr „Verbrechen“ übermächtig wird, gestehen sie es ein und distanzieren sich zugleich nicht von ihrer Tat. Damit ist indirekt ein Ja zum eigenen Martyrium gegeben, das aber kein Ja zum eigenen Tod ist, sondern ein Ja zu der guten Tat, die von anderen schuldhaft mit dem Tod geahndet wird. Es gibt diesen Moment auch in Jesu Leben, in dem er ja zu seinem Martyrium sagt. „Nicht wie ich will, sondern wie du willst“ (Mk 14,36) – das Ja zu den Konsequenzen der gelebten Nächstenliebe.
Das Auferstehungsmotiv hingegen ist bei den Suizidmördern nichts weiter als die Verlängerung des utilitaristischen Prinzips. Mit Ironie karikierte eine Zeitung im Januar 2015 nach den Morden an Karikaturisten von „Charlie-Hebdo“ die banale Auferstehungsideologie der Mörder: Sie kommen im Himmel an, schauen sich nach den verheißenen Jungfrauen im Männer-Paradies um und sehen weit und breit keine solchen: „Die sind unten bei den Journalisten von Paris“ – hören sie die Stimme vom Himmel.
Das Judentum entwickelte in der makkabäischen Verfolgungszeit die Vorstellung von der Auferstehung der Märtyrer. Im Hintergrund standen nicht utilitaristische Berechnungen, sondern das Problem des leidenden Gerechten mit Gott. Kurz zusammengefasst5 lautete der Gedanke, dass Gott ungerecht wäre, wenn er die Gerechten, die ihr Leben hingeben in der Treue zum göttlichen Gesetz, sterben und tot sein ließe. Die leidenden Gerechten sind nun aber gerade keine strahlenden Helden der Selbstaufopferung. Sie sind vielmehr Verachtete. Den drei „Freunden“ Hiobs erscheint Hiobs Leiden als sinnlos. Deswegen distanzieren sie sich von ihm. Hiob wird gerade von denen, die ihm nahestehen, verkannt und verachtet. Dasselbe gilt für Jesus, der am Kreuz von allen, die ihn auf diese oder jene Weise auf den Schild heben wollten, verlassen wird. Es ist absurd, aus der Gerechtigkeit Gottes, an der die makkabäischen Märtyrer festhalten, schließen zu wollen, dass die Gerechtigkeit Gottes im Sinne eines Interessenskalküls berechenbar wäre. Genau das geschieht aber in der kruden Belohnungsfantasie der religiösen Fanatiker.

Wege aus dem Hass

Antoine Leiris schrieb nach dem Terroranschlag in Paris vom 13. November 2015 ein Buch mit dem Titel: „Meinen Hass bekommt ihr nicht.“ „Freitagabend habt ihr das Leben eines außerordentlichen Wesens geraubt, das der Liebe meines Lebens, der Mutter meines Sohnes, aber meinen Hass bekommt ihr nicht.“ Ein muslimischer Freund, dessen Geschwister in der Türkei wegen Kritik am derzeitigen großen Präsidenten inhaftiert wurden, sagte mir: „Wenn ich Erdoğan zu hassen beginne, hat Erdoğan gesiegt.“ Der Trappist Christian de Chergé wurde 1996 zusammen mit seinen Mitbrüdern von algerischen Dschihadisten ermordet. In der Vorahnung dessen, was auf ihn zukam, schrieb er ein Testament. Darin verbittet er sich die Instrumentalisierung seiner Ermordung durch Islamisten für Islamkritik.
Religionen haben auch deshalb etwas mit dem Problem der Gewalt im Namen Gottes zu tun, weil sie ja selbst beanspruchen, einen Weg aus der Gewalt zu weisen. „Mein ist die Rache, spricht der Herr“, heißt es in der Tora – zu ergänzen: „Nicht dein!“ Der Gekreuzigte überlässt sich und seine Sache dem Vater im Himmel („Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist“ – Lk 23,46) und betet für den Mob, die Richter und die Vollstrecker. Ich verlasse an dieser Stelle den allgemeinen Religionsbegriff und konzentriere mich auf die christliche Tradition. Damit ist anderen Religionen nichts abgesprochen. Für das Christentum scheint mir jedenfalls im Zusammenhang unserer Fragestellung die Tatsache wichtig zu sein, dass es die Geschichte eines Gewaltopfers in das Zentrum seiner Erzählung stellt.
Durch die erlebte Gewalt werden Gewaltopfer in ein inneres Drama gestürzt, das sie mit Wucht dazu drängt, Gewalt mit Gewalt zu erwidern. Das gilt nicht nur für einzelne Personen, sondern auch für Kollektive. Opfernarrative auf Grund von erfahrener Gewalt prägen die Grundstimmung im Selbstverständnis von Nationen und Konfessionen. Die Ideologen des islamistischen Terrors definieren die muslimische Welt als Opfer des Westens. Die Internetportale des IS überbieten sich mit Berichten und Zeugnissen über Gräueltaten des Westens, insbesondere der USA, an Muslimen. Die Opfermythologie, die Selbstbeschreibung als Opfer-Kollektiv dringt in die Gene des kollektiven Bewusstseins ein und wird der entscheidende Faktor für quälende Hassgefühle. Genauso verhält es sich mit anderen Opfernarrativen, von denen europäische Nationen geprägt sind.
Auch der Populismus entfacht das Feuer des Hasses durch die Konstruktion von Opfernarrativen, die gerade bei den Erniedrigten und Beleidigten verfangen – man denke nur an Donald Trumps Formulierung vom „Massaker am amerikanischen Volk“6, oder an den aktuell benutzten Begriff der „Umvolkung“7, der das deutsche Volk in einen kollektiven Opferzustand hinein-imaginiert. Tatsächliche oder vermeintliche Opfererfahrungen werden aufgegriffen und gesteigert. Hassgefühle werden bestätigt und verfestigt, die Opfer werden über die Hassgefühle an die Feinde gekettet – denn Hass schafft ja keineswegs Distanz, sondern verbindet.8
„Meinen Hass bekommt ihr nicht.“ Antoine Leiris bestreitet mit dieser Formulierung nicht, dass er keine Hassgefühle hätte. Er sagt nur, dass die Täter seinen Hass nicht bekommen werden, etwa in Form von ausagiertem Gegenhass. Das ist dann aber auch der erste Schritt auf dem Weg aus der Gewalt, und zwar in doppelter Hinsicht. Suizid-Morde zeigen in extrem gesteigerter Symbolik, dass die Dynamik des Hasses eine Doppelte ist: Zerstörung des Anderen bei gleichzeitiger Selbstzerstörung. Wer glaubt, sich vom eigenen Hass befreien zu können, indem er das Objekt seines Hasses beseitigt, täuscht sich: Er beseitigt sich auch selbst. Er oder sie wird den Hass so nie loswerden. Der Hass wird zu seinem identitätsbildenden Narrativ, zum Narrativ der kommenden Generationen, die sich für Opfer halten und genau dadurch ihre Täteranteile verkennen. Denn dies gehört ja auch zum inneren Vexierspiel, dem Fanatiker unterliegen: Sie sind Täter, die sich für Opfer halten.
Die Formulierung von Antoine Leiris weist in die genau entgegengesetzte Richtung. „Meinen Hass bekommt ihr nicht“, das bedeutet auch: „Ich beschütze auch mich selbst vor meinen Hass.“ Ich weiß nicht, ob sich Leiris selbst als religiös versteht. Das ist auch nicht so wichtig. Die religiöse Dimension dieses Satzes erkenne ich, wenn ich ihn für mich übernehme, darin, dass die Unterlassung der Hasssprache und der Hasstaten implizit darauf setzt, dass die Unterlassung keineswegs etwas bloß Passives ist. Gerade dadurch, dass ich etwas unterlasse, tue ich etwas – gebe ich einem Anderen, Dritten, Unverfügbaren, Raum, um heilsam in den Gewaltkreislauf hineinzuwirken. Religiös gewendet heißt das: Ich gebe dem Vertrauen auf eine Kraft Raum, die ich selbst nicht habe.
Das lässt sich auch umdrehen: Vom Hass getriebene Täter, die beanspruchen, im Namen Gottes zu morden, haben kein Vertrauen auf Gott. Der ganze fromme Diskurs, den sie führen, ist vor allem eine Selbsttäuschung hinsichtlich ihrer eigenen Frömmigkeit. Sie werden den Hass so nie besiegen, weder ihren eigenen noch den ihrer Feinde. Sie werden nur zerstören – sich selbst und andere. Das einzige, was überleben wird, wird der Hass selbst sein. Einen Weg aus diesem Kreislauf gibt es nur über das Vertrauen, dass kein Mensch das Problem des Hasses alleine lösen kann. Kein Mensch ist Gott.

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