Eine katholische Nationalheilige für Pakistan?Ruth Pfau (1929-2017) und das Elend der Welt

Spätestens seit dem Auftreten der Taliban in den 1990er-Jahren hat Pakistan ein kaum mehr reparables Imageproblem. Für viele westliche Länder ist das zu 97 Prozent muslimische Land am Indus ein verfallender Staat, in der die Gewalt, die Korruption, das Militär als Staat im Staate und zunehmend der Islamismus regieren. Die hingebungsvolle Verehrung, die der Staat und viele Menschen in Pakistan seit langem für die katholische Ordensfrau Dr. Ruth Pfau (1929-2017) hegen, passt hingegen nicht in dieses Bild. Zusammen mit Abdul Sattar Edhi (1928-2016), dem Gründer der Edhi Foundation, ist sie auf bestem Wege, zu einer Art nationalen Ikone der Mitmenschlichkeit zu werden – Leitbilder, die ein in Pakistan zweifellos inniges Bedürfnis der Menschen ansprechen.
Ruth Pfau hatte seit den frühen 1960er-Jahren ein in Pakistan und weltweit einzigartiges Netzwerk zur Bekämpfung der Lepra aufgebaut. Dank dieses Werks ist die früher endemische Krankheit seit den 1990er-Jahren anerkannter Weise im Griff: Die Zahl der Neuansteckungen sank auf etwa 400 pro Jahr, die auch inzwischen rasch diagnostiziert und behandelt werden. Dieser heldenhafte Sieg über die Lepra mithilfe eines unter schwierigsten Bedingungen aufgebauten Netzwerks gelang hauptsächlich dank des jahrzehntelangen einzigartigen Arbeitseinsatzes der schmächtigen Nonne und machte sie schon zu Lebzeiten zum Mythos. Der Staatsapparat gewann schon früh Vertrauen zu ihr und machte sie zur nationalen Koordinatorin im Kampf gegen die Lepra. Sie hatte Freunde und Förderer in Gesellschaft und Politik bis in höchste Kreise der Staatsführung. Schon der Festgottesdienst zu ihrem siebzigsten Geburtstag in der St. Patricks Kathedrale in ihrer Wahlheimatstadt Karachi war ein Staatsakt mit einer Vielzahl von prominenten Gästen aus Staat und Gesellschaft.
Ein Zeichen der Anerkennung im Land selbst ist, dass immerhin rund 40 Prozent der Projektmittel für das Marie Adelaide Lepra Center (MALC) in Karachi und seines Netzwerks aus Pakistan selbst kommen (der Rest aus dem Ausland). Sie erhielt mehrere hohe Staatspreise. 1997 nahm sie die pakistanische Staatsbürgerschaft an. Nach ihrem Tod am 10. August 2017 wurde sie am 19. August 2017 mit einem Staatsbegräbnis geehrt, was in Pakistan sehr selten ist – zuletzt bei Abdul Sattar Edhis Tod 2016. Bei der Trauerfeier stellte sich unter den zahlreichen Honoratioren aus Staat, Gesellschaft und Kirche sogar Pakistans Staatspräsident Mamnoon Hussain ein. Eine Ehrengarde der Armee trug den Sarg, auf dem die pakistanische Flagge ausgebreitet war, in die Kathedrale und auf den Friedhof, in ganz Pakistan standen derweil die Flaggen auf Halbmast. Ihr Grab auf dem alten christlichen Friedhof in Karachi, Gora Qabristan, ist auf dem besten Wege, zu einer interreligiösen Pilgerstätte zu werden, auf der fromme Besucher Rosenblätter, Räucherstäbchen und bunte Tücher ablegen. Nun kommen auch noch eine Münze und eine Briefmarke für die deutsch-pakistanische Lepra-Ärztin heraus. In Ihren Privaträumen im MALC wurde kürzlich ein Museum eröffnet, das ihr und ihrem Werk gewidmet ist. „Santo subito!“ schallt es durch die sozialen Netzwerke.

Schwestern im Geiste

Neben der Orientalistin Annemarie Schimmel (1922-2003) ist Ruth Pfau wohl die zweite große Symbolfigur der deutsch-pakistanischen Verständigung. Ulrike Christian hat denn auch die beiden Frauen in einer Studie1 miteinander verglichen. Beide, so die Autorin, folgten auf ihre Weise dem Ruf der göttlichen Liebe: die deutsche Orientalistin Schimmel – auch sie in Pakistan hoch geehrt –, die sich schon als junge Frau mit den bedeutenden Mystikern der indo-persischen Kultur beschäftigte, diese für ein westliches Publikum erschloss und zur kulturellen und politischen Botschafterin Pakistans in der westlichen Welt wurde; Pfau als Ärztin und Nonne im lebenslangen Kampf gegen die Lepra und das Elend in Pakistan.
Es ist erstaunlich, dass beide große Frauen ein gutes Verhältnis zu dem pakistanischen Diktator Muhammad Zia ul-Haq (1924-1988) pflegten, der für viele Pakistanis aber auch im Ausland als derjenige gilt, der den Islamismus zum Pfeiler der Staatspolitik gemacht hatte, die Prohibition durchsetzte, Körperstrafen einführen ließ und insbesondere die berüchtigten Blasphemiegesetze in das staatliche Rechtssystem einbaute, die bis heute die Gesellschaft vergiften und sowohl für Muslime als auch für die Minderheiten verheerende Folgen mit sich brachten. Beide Frauen wollten den Islamismus nicht in Bausch und Bogen verdammen, sondern auch hier die Geister unterscheiden. Annemarie Schimmel schuf sich viele Feinde, selbst unter ihren eigenen Schülern, als sie in den 1980er-Jahren für mehr Verständnis für die sich auf unterschiedliche Weise islamisierenden Kulturen in Iran und Pakistan warb. Ruth Pfau hatte durchaus Respekt für Menschen und Organisationen, die im Islam eine Quelle der Rechtschaffenheit suchten und fanden – etwa für die Jamaat Tabliq, eine im kolonialen Indien 1927 gegründete und inzwischen weltweit etablierte islamische Erweckungsbewegung, die sich vor allem der Verehrung des Propheten Muhammad und seiner Nachfolge verschrieben hat. Ruth Pfau berichtet von einem Mitarbeiter des Lepra-Netzwerks, der in der Jamaat Tabliq seine spirituelle Heimat fand und sich nicht mehr länger auf Stühle setzen wollte, da der Prophet in seiner Zeit ebenfalls nicht auf Stühlen, sondern auf dem Boden saß.
Doch noch eine andere Parallele wird bei Ruth Pfau deutlich, nämlich die zur weitaus berühmteren Mutter Theresa (1910-1997) in Kolkata (früher: Kalkutta), die sich ebenfalls den größten Teil ihres Lebens und bis zu ihrem Tod für die Ausgestoßenen der Gesellschaft engagierte. Die Berufung zum lebenslangen Dienst an denen, um die sich sonst keiner kümmert, ist beiden gemein – doch auch äußerlich gibt es Ähnlichkeiten. Beide waren eher kleine, schmächtig gebaute und anspruchslose Frauen, die sich anstandslos die Tracht, die Essgewohnheiten und die Lebensformen in ihren Wahlheimaten zu Eigen machten. Beide fromme Ordensfrauen stellen in gewisser Weise das Gegenbild des modernen Expat dar, der sich auf ein paar Jahre kalkulierten Abenteuers als Experte in einem Entwicklungsland einlässt. Für Mutter Theresa und Ruth Pfau gab es kein Zurück in die Luxusgesellschaft. Sie nahmen beide die Staatsbürgerschaften der Länder an, für die sie sich entschieden hatten, beide haben dort große Hilfswerke aufgebaut und sind auch dort begraben. Und beide kennen die Abgründe nicht nur der Welt, sondern auch die berüchtigte dunkle Nacht der Seele, den Schmerz angesichts des Leidens in der Welt und der scheinbaren Abwesenheit Gottes. Beide eint aber auch das intensive Gebetsleben und die Hoffnung, die sie auch in der tiefsten Verzweiflung nicht ganz verließ.
Was ihre kirchenpolitischen Positionen angeht, gibt es freilich deutliche Unterschiede: Mutter Theresa mit ihrer traditionellen Kirchlichkeit, die in einer spontanen Geste liebevoller Zuwendung Händchen mit Papst Johannes Paul II. hält, dort Ruth Pfau, die die Kirche in Pakistan kritisch sieht und am liebsten Frauen am Altar sehen würde. Beide scheuten sich nicht, ihre Positionen auszusprechen, wann immer sie gefragt wurden – auch wenn dies politisch inopportun erscheinen konnte. Bei aller Redseligkeit und trotz einer Vielzahl von Aufgaben und Arbeiten suchten beide auch immer die Einsamkeit der Kapelle, das Gebet, die geistlichen Übungen.

Kapelle und Staatsapparat

Nicht nur die öffentliche Wirksamkeit, auch solche Details des persönlichen Glaubenslebens sind selbst für strategisch denkende Staatspolitiker immer wieder faszinierend. Doch geht es ihnen jenseits des persönlichen Zugangs immer auch um den staatspolitischen Nutzen. Versucht die pakistanische Staatsführung, das Andenken ihrer Ruth Pfau für ihre Zwecke in Anspruch zu nehmen? Strebt Pakistan – der ewige Konkurrent Indiens – nach einer eigenen katholischen Nationalheiligen, einer Art Mutter Theresa für Pakistan? Wird ihr Andenken im Namen eines verkommenden Staatswesens missbraucht, das sich der Welt gegenüber kontrafaktisch als weltoffen und minderheitenfreundlich geben will? Ist gar die Verehrung Ruth Pfaus in PakisHeinz Werner Wessler 388 tan angesichts der bedrohten Lage der Christen von Anfang an „heuchlerisch“, wie Michael Lenz in einem KNA-Artikel kürzlich behauptete?2
Pakistan hatte sich bei der Staatsgründung als ein säkularer Staat mit einer muslimischen Identitätsbasis definiert. Unabhängig von ihrer Religion sollte die Bevölkerung aus einer homogenen Gemeinschaft von Staatsbürgern bestehen, wie es sich für einen modernen Staat geziemt. Die Verfassung schreibt allen Bürgern die gleichen Rechte und Pflichten zu. Bis heute sitzen Christen und Hindus als Abgeordnete in den Parlamenten und immer wieder auch in den Kabinetten, Sikhs dienen sogar als Offiziere in der pakistanischen Armee, Parsis spielen eine wichtige Rolle in der pakistanischen Wirtschaft. Der allseits gepriesene, auf Münzen, Geldscheinen, Briefmarken und in zahllosen Monumenten verewigte ehrenwerte Staatsführer (Qaid-e Azam) Muhammad Ali Jinnah (1876-1948) hatte keineswegs einen islamischen Staat vor Augen, sondern ein tolerantes Staatswesen, in dem der Islam eine einigende Funktion, eine identitätsstiftende Basis für die pakistanische Nation darstellte. In dieser Nation sollten alle Staatsbürger ohne Ansehen ihrer Religion ihren Platz haben. Er selbst berief 1947 Vertreter der Minderheiten auf wichtige Posten im neu gegründeten Staatswesen.
Mit anderen Worten: Das Erbe des traditionellen Multikulturalismus und der religiösen Vielfalt ist im postkolonialen Staat nicht einfach verlorengegangen. Ein tolerantes und weltoffenes Pakistan ist immer noch das offizielle und viel beschworene Leitbild jeder Regierung. Der Exodus der nicht-muslimischen Minderheiten im Zuge der erlangten Unabhängigkeit von 1947 ist ein bis heute kaum überwundener Schock. Eine homogene Staatsbevölkerung hat diese von furchtbarer Gewalt begleitete Katastrophe jedenfalls nicht geschaffen – zu vielfältig sind die sozialen, religiösen und kulturellen Identitäten in Pakistan. Die Marginalisierung und das Verschwinden der Minderheiten trägt dazu bei, dass die Spannungen innerhalb des islamischen Lagers im Laufe der Jahrzehnte umso drastischer hervortreten, insbesondere zwischen Schiiten und Sunniten.
Der Anteil der Christen an der Bevölkerung liegt bei unter zwei Prozent, doch manche von ihnen spielten eine wichtige Rolle in Staat und Politik. Alvin Robert Cornelius (1903-1991) etwa war viele Jahre der Oberste Landesrichter. Zu den gegenwärtigen bekannten Gesichtern der pakistanischen Christen gehören Sara Alfred, eine bekannte Nachrichtensprecherin im pakistanischen Fernsehen; die populäre Sängerin Zoe Viccaji; die Top-Models und Filmschauspielerinnen Jia Ali und Sunita Marshall – aber auch der 2005 zum Islam konvertierte ehemals christliche Cricket- Nationalspieler Mohammad Yousuf.

Von Leipzig nach Karachi

Ruth Pfau wurde am 9. September 1929 in Leipzig geboren. Die Kriegsjahre in Leipzig, die Begegnung mit Kriegsgefangenen und Ausgebombten, aber auch die Bombennächte und der Überzeugungswechsel von Freunden und Bekannten vom Nazismus zum Sozialismus hat sie nie vergessen. Tief betroffen hat sie auch der Tod des geliebten kleinen Bruders in der Not der Nachkriegsjahre. Mit 20 Jahren flüchtete sie über die grüne Grenze nach Westdeutschland. Die Familie ließ sich zunächst in Wiesbaden nieder, wo der Vater wieder im Publikationswesen Arbeit fand. Die noch immer ungetaufte Ruth Pfau wollte den Menschen dienen und entschied sich zum Studium der Medizin in Mainz und Marburg. Während ihrer Studienjahre wurde die Suche nach einer bestimmenden Kraft für ihr Leben immer intensiver. Im Alter von 24 Jahren ließ sie sich in der Evangelischen Kirche taufen. Zwei Jahre später trat sie in die Katholische Kirche ein.
Den Freund, der sie heiraten und eine Familie gründen wollte, ließ sie ziehen – und er ließ sie ziehen. Den Beschluss zum Eintritt in einen Orden konnten ihre Eltern nicht nachvollziehen. Ihr Vater kommentierte den Beschluss so: „Lieber ein uneheliches Kind!“3. 1957 wurde Ruth Pfau Mitglied der Kongregation der Gesellschaft der Töchter vom Herzen Mariä. Da die Ordensmitglieder aber auch eigene Verpflichtungen im beruflichen und gesellschaftlichen Leben eingehen und aufrechterhalten können, werden die Schwestern erst dann zur Ewigen Profess zugelassen und eingeladen, wenn sie keine solchen Bindungen mehr haben. So hat sie am 30. Mai 2017, wenige Wochen vor ihrem Tod, noch förmlich ihre ewige Profess abgelegt, getreu der Regel ihres Ordens, der seine Mitglieder dazu erst zulässt, wenn diese keine beruflichen Verpflichtungen mehr haben. 1960 sandte ihr Orden sie nach Asien, um als Gynäkologin in Indien zu arbeiten. Weil es aber bei einem Zwischenhalt in Karachi Probleme mit ihrem Visum gab, blieb sie in der Stadt hängen. Ein Besuch in einem Armenviertel und die erste Begegnung mit einer ärmlichen Lepra-Klinik führte dann zu ihrem spontanen Entschluss, vor Ort zu bleiben und sich hier in der Lepra-Arbeit zu engagieren.
„Ich bin eine normale Frau, eine Intellektuelle ohne mystizistische Neigungen oder besondere spirituelle Begabungen. Dass Er sich in mich verliebt hat, wie Er sich in den Stamm Israel verliebt hat: Das war nicht, weil dieser Stamm der größte, der intelligenteste ist. Sondern weil es Israel war“4. Dabei betonte sie stets, sie sei gerne Ordensfrau, wenn sie auch mit dem Gedanken spielte, im Namen des Kampfes für Gerechtigkeit in die Politik einzusteigen.
Über die Konflikte mit dem Orden, ihren anti-bürgerlichen Impuls, ihren Individualismus, der sie nahe an den Herausschmiss brachte, hat sie keineswegs geschwiegen. Konflikte sah sie als Teil ihrer spirituellen Biografie, von Verbitterung keine Spur. Sie verbrachte viel Zeit in Kapellen, besuchte oft Frühmessen, liebte die ignatianischen Exerzitien – und sie hielt durch, trotz der Voraussage einer deutschen Oberin, die einstmals den baldigen Austritt der jungen Novizin prophezeien zu können meinte. Über den Zustand ihres eigenen Ordens war Ruth Pfau beunruhigt. Der Orden betreibt in Karachi zwei gediegene Privatschulen mit reicher Klientel. Überhaupt hat sich in den letzten Jahrzehnten das kirchliche Engagement im Bildungssektor allgemein mehr und mehr auf anglophone Eliteschulen fokussiert – eine Dynamik, die umgekehrt auch die katholische Kirche in Pakistan überhaupt verändert: Oft scheint es mehr darum zu gehen, Institutionen zu bewahren und selbstzufrieden den Bestand zu entwickeln, auf Kosten der Zuwendung zu den Armen und Bedürftigen. Zur kirchlichen Hierarchie in Pakistan pflegte Ruth Pfau ein beredtes Schweigen: Sicherlich hatte sie auch hier einen wachen Blick für Probleme, doch konnte sie auch diskret sein, wenn sie es so wollte. Gewiss sah sie die bedrohte Lage der Kirche im Land, die eine für die Substanz des kirchlichen Auftrags ungesunde Wagenburgmentalität erzeugt. Mission, so erklärte etwa der Erzbischof von Lahore Francis Shaw in einem Interview, ist heute eine spirituelle Angelegenheit mit dem Ziel der Transformation der Gesellschaft – also bloß keine Taufe von Muslimen, selbst wenn diese darum flehentlich ersuchen. Werde die Taufe von Muslimen bekannt, würde das automatisch Pogrome gegen die Christen lostreten. Von Religionsfreiheit kann in Pakistan, wie man an diesem Beispiel sieht, nur eingeschränkt die Rede sein.
Neben ihrem ungeheuren Arbeitseinsatz und dem Gebetsleben hat Ruth Pfau seit vielen Jahren auch geschrieben. Einige der Buchtitel: „Leben ist anders – Lohnt es sich? Und wofür?“ (2014); „Und hätte die Liebe nicht – 50 Jahre in Pakistan“ (2010); „Liebe und tu, was du willst – Wege meines Lebens“ (2006) – oder auch in Englisch: „To Light a Candle and Keep it Burning“ (2017). Die Bücher handeln alle von ihr selbst – jenseits jeglicher Versuchung narzisstischer Selbstbespiegelung sind sie beeindruckende Dokumentationen ihrer rastlosen Tätigkeit, aber auch der Suche nach Antworten auf die großen Fragen nach der Rechtfertigung des Leidens, der Realität Gottes und des Menschen. Ohne die Sinnfrage, auf die es nur Antwort-Narrative gibt, wird der Einsatz für die Verbesserung der Welt zum bloßen Beschäftigtsein bis zur Überforderung.
Ruth Pfaus Bücher sind auch ein eindringliches Zeugnis eines religiösen Lebens in seiner ganzen Bandbreite – von liebevoller Ergebenheit, Gottesbegegnung in der Stille der Kapelle und der Wüste, zur Wahrnehmung der in ihre Enge und ihr Leiden verstrickten Menschen und der Dinge, zur ständigen Meditation über das grauenvolle Leiden der Welt, dessen Inbegriff für sie das Kruzifix war, unter dem sie nicht in Ruhe schlafen konnte. Das Hadern mit Gott und seiner Schöpfung wurde mit zunehmendem Alter, wie sie freimütig immer wieder bekennt, immer vordringlicher. Ohne Illusionen sah sie auch die tiefe Bosheit von Menschen, die Abgründe der moralischen Korruption, die Schrecken der Gewaltbereitschaft, von Krankheit und Tod – aber auch die innere Leere, die ein selbstzufriedenes Leben erzeugt.
Qualvoll umkreiste Ruth Pfau immer wieder den Punkt, an dem sich das Leiden – von wem auch immer es verursacht ist – grundsätzlich nicht mehr rechtfertigen lässt. Das Geschenk der Freiheit hin oder her – wie konnte Gott die Welt nur so schaffen, wie sie ist? Wieso musste das Drama von Kreuzigung und Auferstehung überhaupt nötig werden? Diese Frage stand ihr mit zunehmenden Alter mehr und mehr vor Augen. Überhaupt, das Alter: Es brachte sie von der Gewissheit der Anwesenheit Gottes ab, die sie in jüngeren Jahren nach eigenem Bekunden noch so dankbar gespürt hatte – nicht in Form von Privatoffenbarungen, nicht in Form von großen mystischen Erlebnissen, sondern in Form einer ganz persönlichen und immer wieder gespürten Nähe. Schmerzlich rang sie damit, dass ihr dieses Bewusstsein Seiner Nähe abhanden kam. So schlug sich das viele körperliche und psychische Leiden, das sie in ihrem vollen Leben gesehen und zu einem guten Teil gelindert und geheilt hat, in ihr wie bei Mutter Theresa in einem neuen Leiden nieder, für das es nur in Gott allein Heilung gibt.
Schon vor ihrem 65. Geburtstag hatte sie von Rückzug aus dem aktiven Leben gesprochen, von Rückkehr in ihr Mutterhaus in Frankreich, von der Sehnsucht nach einem kontemplativen Leben. Doch es sollte anders kommen. Das landesweite Netzwerk von Lepra-Stationen sollte nicht aufgelöst werden, brauchte aber neue Betätigungsfelder, da die Zahl der Lepra-Patienten immer kleiner wurde. Schon seit längerem befassten sich die Lepra-Stationen auch mit der endemischen Tuberkulose. In den letzten Jahren ihres Lebens ging es um eine Nutzbarmachung des Netzwerks für die Behinderten in Pakistan. Zwischen vier und fünfzehn Prozent der Bevölkerung gelten als behindert. Ruth Pfau gelang es in hohem Alter noch einmal, die Ressourcen für ein integriertes und landesweites Rehabilitationsprogramm (Community Based Rehabilitation, CBR) zu bündeln. Von Juni 2012 bis Herbst 2013 beteiligte sie sich persönlich am Durchkämmen des Landes und bei der Registrierung der Bedürftigen. „Ob das strapaziös war? Sicher! In Karachi zu sitzen ist aber noch anstrengender“5. Es geht darum, soziale Gemeinschaften zu motivieren, ihre Schwächsten anzunehmen und zu stützen – eine spirituelle Aufgabe, wie Ruth Pfau findet, denn „Gott hat nicht Beine oder Arme oder Hände geschaffen, sondern Menschen, Menschen, die als Geschöpfe Respekt verdienen, so wie sie sind“.6

Auf dem Pulverfass

Pakistan nennt sie ein „Land auf dem Pulverfass“7 – damit meint sie zuerst die durchaus reale Möglichkeit, dass es einmal zu einem atomaren Schlagabtausch zwischen Indien und Pakistan kommen kann. Doch es geht um etwas tiefer Liegendes. Pakistan besteht zum einen aus den von Ruth Pfau so geschätzten herrlichen Landschaften, von den Sanddünen in Baluchistan zu den Nadelwäldern im Himalaya, zum anderen aber auch aus den Schrecken der Armut, des gewalttätigen Islamismus, der menschenverachtenden Stammesregeln, der Skrupellosigkeit von Feudalherren, des Militärs und des Staatsapparates, die nichts weniger als ein „Krieg gegen das eigene Volk, mit allen brutalen Konsequenzen“8 führen.
Und überhaupt: „Gewalt ist Gegenwart in diesem Land. Und sie durchtränkt auch die Geschichte. Gewalt gehört zur Geschichte der Menschen und die Erinnerung daran ist immer präsent“9. Es erschreckt Ruth Pfau, wie die Atombombe als Symbol der nationalen Macht „identitätsstiftend“ geworden ist und so auch in Form von Denkmälern inszeniert wird, ohne Ansehen des unendlichen Schreckens, den diese Waffe in sich trägt. Dahinter sieht sie die „Angst als ein Zeichen von Schwäche“10. Das Böse kann nicht durch Rache ausgelöscht werden, und Rache ergibt keinen tieferen Sinn. Darüber hinaus wurde ihr die fehlende Nachhaltigkeit und die ökologische Krise vor Ort in der immer noch weiter und rascher wachsenden Metropole Karachi – derzeit zwischen 20 und 25 Millionen Einwohner, keiner weiß es genau – und in der ganzen Welt mehr und mehr deutlich. Für das langfristige Überleben des Hilfswerks ist es wichtig, dass der einheimische Spendenanteil steigt. Infolgedessen wird auch in Pakistan professionelles Fundraising betrieben, zu dem Ruth Pfau ein ambivalentes Verhältnis hat, hier wie dort.
„Pakistan ist mir auch innerlich in mancher Hinsicht fremd geblieben, obwohl ich schon über 50 Jahre hier bin.“11. Vielleicht bewegt sich hier Ruth Pfau ein wenig in Klischees, wenn sie beschreibt, dass sie als Ausländerin im Kontakt mit Regierungsstellen auch beschreiben kann, wenn einmal etwas im Projekt schiefläuft – was angeblich ein Pakistaner nicht tun würde. An einer Stelle beschreibt sie den Unterschied als Gegensatz von „Schuldkultur“ (westliche Welt) und „Schamkultur“ (Pakistan), soll heißen, das schlechte Gewissen besteht, selbst wenn die Schuld nicht aufgedeckt wird – auf der anderen Seite die Dominanz der Ehre: „man hat nicht nur kein schlechtes Gewissen, sondern man hält im Gegenteil den anderen für den Dummen, weil er verloren hat“12.
Dabei sieht sie überall in Pakistan Menschen im Stande der Heiligkeit: Die Dörfler, die lachend über die geraubten Ziegen berichten, den Schlaganfallpatienten, der sich über sein Bett in der Lepraklinik freut und gute Laune verbreitet, Mütter, die sich für ihre Kinder aufopfern, Lehrerinnen, die nebenbei noch Behinderte unterrichten. „Da geht es nicht um abgehobene Dinge.“13. Gerne verwies sie auf die alte jüdische Weisheit: Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.

Keine Zeit der Ernte

Ruth Pfau erhielt zahlreiche Ehrungen und Preise, darunter den Magsaysay-Preis („asiatischer Nobelpreis“, 2002), die Goldmedaille des Albert-Schweitzer-Preises (2005) und den Klaus-Hemmerle-Preis (2014). Ein volles Leben hat sie gelebt, und sprach auch im hohen Alter noch von ihrer anhaltenden Neugierde und von ihrer Ungeduld. Mit dem achtzigsten Geburtstag wollte sie es sein lassen, sich nicht weiter in der Ausbildungsabteilung engagieren und auch nicht mehr öffentlich sprechen. Nachdem sie ihre leitende Verantwortung an ihren langjährigen Mitarbeiter Mervyn Lobo übertragen hatte, wollte sie sich dann nun endlich freimachen, sich ganz dem Orden und ihrer Oberin zur Verfügung zu stellen.
Doch es kam, wie gesagt, anders. Das Weitermachen bis zum letzten Atemzug war nur gelegentlich Zeit der Ernte oder auch das Vermitteln eines Modells gelungenen Lebens – sie wusste, wie sehr besonders junge Menschen sich danach sehnen –, aber kein Sich-Klammern: Eher das selbstlose Gefühl, machen zu sollen, was kein anderer macht oder machen kann. Es war aber auch etwas Beunruhigendes darin: Sie redete freimütig über die freundlichen aber auch die dunklen Seiten des Alters, über tiefe Traurigkeit und schlimme Angstzustände. Vor allem war ihr die Sicherheit der Gottesbegegnung im Alter abhandengekommen, wie sie freimütig berichtete. Es gab noch viel zu tun, wie sie immer wieder deutlich machte – doch: „Ich habe nichts, wirklich nichts dagegen, jetzt zu sterben“14. Gerne verwies sie auf den heiligen Benedikt, der seinen Mönchen empfahl, sich jeden Tag den eigenen Tod vor Augen zu halten – was ihr als Ärztin angesichts ihres Herzklappenfehlers (Mitralstenose) wohl nicht allzu schwergefallen sein dürfte – ohne dass dies zu Depression führen muss. Sterbende, so Ruth Pfau, sind Kundschafter in einem sonst ausgesparten Lebensbereich – ein Bereich, auf den sie neugierig war. Ein ewiges Weiterleben ohne Tod ist sinnlos, doch hatte sie nicht nur die biologischen und abstrakten metaphysischen Dimensionen des Todes ständig vor Augen, sondern auch die Entwürdigung durch Krankheit, die scheinbare Entseelung der Dementen, der unendliche Schmerz der Hinterbliebenen, das Entsetzen der mittellos gewordenen Witwen und Waisen.
„Leid ist die Grundstruktur des Lebens, […] Dunkelheit, die nicht aufhellbar ist“15 – immer wieder taucht das Thema von der nahezu überwältigenden Dunkelheit der Welt auf. Was sie meint, ist weder im Sinne eines buddhistischen Weltpessimismus noch existentialistische Hoffnungslosigkeit. Es blieb bis zuletzt als prophetische Unruhe, die nicht nachließ, die in die Hoffnungslosigkeit hineingeht, doch von ihr nicht verschluckt wird: Ruth Pfau konnte sich schlicht und einfach immer weniger mit dem allgegenwärtigen Leid abfinden. „Ich finde es unnachvollziehbar, wie Gott die Welt so eingerichtet hat“16. Besonders im Alter ging ihr das Schicksal der Welt mehr nach denn je – dem ist ein ganzes Kapitel in ihrem Buch von 2014 gewidmet. „Jetzt aber spüre ich die Leere. Der ‚Erfolg‘ verblasst hinter dem, was ich jetzt erfahre.“17
Diese Anfechtungen fanden nicht im luftleeren Raum oder am Schreibtisch statt, sondern zwischen Kapelle und Krankenstation, zwischen Großstadtslum und Zeltlager, zwischen Wüste und Hochgebirge im Norden, auf den langen Reisewegen und in den zahlreichen Außenstationen. Es war immer eingebettet in die Routine des Gebetslebens in der Kapelle und im eigenen Zimmer, der Frühmessen und der täglichen Bibellesung. Aus der Konfrontation mit „Leid und Schmerz […] erfahre ich in aller Dunkelheit – Sinn. Das letzte Wort wird Liebe sein.“18 Doch: Sie schließt nicht mehr aus, dass sie sich täuschen könnte. Immer wieder kommt sie auf Nazi- Deutschland zurück, das sie als Kind noch erlebt hat, auf die Schoa, auf den Zivilisationsbruch, der mit dem Namen Auschwitz bezeichnet wird.
Wenn man sie in Pakistan fragte, welcher Religion sie angehörte, antworte sie gerne: Khudā kī bandī hun – „Ich gehöre zu Gott.“ „Engel von Karachi“ wurde sie gelegentlich genannt – von Muslimen, Hindus und Christen. Ihr abschließendes Buch „Leben ist anders“ endet mit einer Art plötzlich durchbrechenden Erkenntnis – sozusagen dem letzten Wort von Ruth Pfau. Die Lebensund Glaubenskrise läutert sich in der Betrachtung des Auferstandenen, der von den Jüngern nicht erkannt und nicht verstanden wurde – und der in ihrer Gegenwart, um sich begreiflich zu machen, etwas zu essen wünscht: „Keine Erklärung. Keine Rede. Keine Traktate. […] Ein Stück gekochten Fisch. Das verstanden sie. So hat Er es weitergeführt: Brot und Wein.“19

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