Mutmacher für eine dienende KircheDer Wiener Weihbischof Helmut Krätzl blickt auf 80 Lebensjahre zurück

Er galt lange lange als "Kronprinz" des "Jahrhundertkardinals" Franz König (1905-2004), der von 1956 bis 1985 die Geschicke der Erzdiözese Wien bestimmte und dann noch weitere fast 20 Jahre lang im Hintergrund die unbestrittene geistige wie geistliche Autorität der österreichischen Katholiken (nicht nur der Bischöfe) blieb.

Aber 1986 wurde ein anderer zum Erzbischof von Wien ernannt, und Helmut Krätzl - der Diözesanadministrator - erfuhr von einer Journalistin davon. Erst später meldete sich der Nuntius mit der entsprechenden Information und bot Krätzl dabei das Amt des Militärbischofs an, offensichtlich eine Art Kompensationsgeschäft (vgl. 57 f.). "Ich will nicht verhehlen", bekennt Krätzl ohne großes Drumherumreden, "dass die Ernennung von Hans Hermann Groer für mich ein massiver Einschnitt war. Bis 1985 hatte ich als Pfarrer, Ordinariatskanzler, Generalvikar und Weihbischof eine aufsteigende Linie in Leitungsfunktionen der Erzdiözese Wien erlebt. Jetzt spürte ich auch an Kleinigkeiten, dass ein Bruch geschehen war. Ein äußeres Zeichen dafür war das vorerst nachlassende Interesse der Medienleute. Ich war für die Journalisten interessant, als ich noch ein 'heißer Kandidat' für den Erzbischofstuhl von Wien gewesen war, jetzt nicht mehr, da ich nicht zum Zug gekommen war. Später hat man wieder neues Interesse an mir gefunden, wahrscheinlich, weil ich zu manchem sehr offen meine Meinung äußerte" (65).

Und so ist Helmut Krätzl über Österreich hinaus bekannt geworden und wurde (und wird) geschätzt, von manchen wohl auch verehrt: als einer, der sich nicht hinter zweideutigen diplomatischen Floskeln versteckt, sondern Tacheles redet, auch nach seiner Bischofsweihe 1977 - erfrischend offen, freimütig, furchtlos -, ohne deswegen im Umkehrzug verletzend und beleidigend, herabwürdigend oder indiskret zu sein. Das Leben, vor allem auch das Leben als Bischof seit nunmehr 34 Jahren, hat seine Spuren hinterlassen. Davon erzählt dieses Buch.

Weil man durch Schweigen der Kirche schaden kann

Und es ist gut, daß es dieses Buch gibt, nicht nur, weil man einiges erfährt, was sich hinter den Kulissen abgespielt hat. Krätzl wollte einfach auf sein Leben zurückblicken: "möglichst sachlich und objektiver, als ich es könnte" (7) - deswegen hat er Josef Bruckmoser, Redakteur und Ressortleiter für Wissenschaft, Gesundheit und Religion bei den "Salzburger Nachrichten", gebeten, "von außen" über dieses Leben zu schreiben: Drei Tage lang hat Krätzl in Salzburg, zwei Tage lang in Wien in seiner Wohnung am Stephansplatz dem renommierten Journalisten erzählt - oral history also der Methode nach, aber eben aus einem ganz bestimmten Grund. Krätzl über Bruckmoser: "Er hat mich 'schonungslos' gefragt und ich habe ihm offen geantwortet. Warum habe ich das getan? Wäre schweigen nicht diskreter gewesen?" (7)

Helmut Krätzl nennt in aller Offenheit zwei Motive, die ihn "zu mancher Offenlegung" bewegt hätten: "Einmal, um ein weit verbreitetes Vorurteil zu entkräften, Bischöfe hätten in den letzten Jahrzehnten zu problematischen Entwicklungen in der Kirche in Österreich nur geschwiegen. Zum andern aber möchte ich jene, die Leitungsverantwortung in der Kirche tragen, daran erinnern, dass man durch Schweigen - aus welchem Grund auch immer - der Kirche auch schaden kann, ja die so notwendige Weiterentwicklung und Erneuerung hemmt"(ebd.). Wer daraufhin jetzt verbale Entgleisungen oder harte Urteile erwartet, liegt falsch. Manch einen wird Krätzls Offenheit schockieren, andere wußten längst, daß er nicht zwei Gesichter zeigt - einige Details, wie er seine Geradlinigkeit nach oben wie nach unten praktizierte, dokumentiert dieses Buch in beeindruckender Weise: "Als wohl längster Mitarbeiter von Kardinal König, dem ich so viel verdanke, fühle ich mich verpflichtet, gleichsam sein geistiges Erbe zu wahren und weiterzutragen" (8).

Schade, jammerschade nur, daß Österreicherinnen und Österreicher dies nicht am Erzbischof Helmut Krätzl erfahren konnten!

Kaplan und Zeremoniar

Seit 1969 Ordinariatskanzler, erlebte Krätzl die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der 70er Jahre aus nächster Nähe: den Konflikt um die gesetzliche Regelung der Abtreibung ("Fristenlösung")2, die Neubestimmung des Verhältnisses der katholischen Kirche zur Sozialdemokratie (SPÖ) und zu den Gewerkschaften und, damit verbunden, die Spannungen mit der Österreichischen Volkspartei (ÖVP) - der umstrittene Begriff der "Äquidistanz" wurde zwar "immer wieder Kardinal König zugeschrieben, stammt aber nicht von ihm, sondern von einem Journalisten" (41), und schließlich die "Wende", die seit Mitte der 80er Jahre durch umstrittene, von konservativen ÖVP- und anderen Kreisen betriebene Bischofsernennungen (Salzburg, Wien, Feldkirch, Sankt Pölten) vorangetrieben wurde und, historisch gesehen, desaströs endete.

Katholisch sozialisiert und so gegen die NS-Ideologie gleichsam imprägniert - der Vater zur Anwerbung durch die Nationalpolitische Erziehungsanstalt (NAPOLA): "Da gehst du nicht hin" (12) -, von guten Kaplänen inspiriert und begleitet, war der Schritt zum Priestertum kein spektakulärer. Nach der Matura (Abitur) am Wiener Wasa-Gymnasium 1949 stand fest: "Priester wollte ich werden, weil ich das Gefühl hatte, in diesem Beruf etwas für die Menschen tun zu können" (14).

Das ist so etwas wie ein Schlüsselsatz, denke ich - denn er gilt für alles, was der 1954, nach Studien an der Universität Wien, zum Priester Geweihte tat und immer noch tut: Er tut etwas für die Menschen - nicht nur für die frommen und gescheiten, sondern auch für die, die sich im Leben, die sich mit der Kirche und ihren Amtsträgern schwer tun.

Kaplan war Krätzl zunächst, in Baden bei Wien, bis ihn der neuernannte Erzbischof Franz König - alle hatten mit Franz Jachym, der seit 1950 bereits Koadjutor von Kardinal Theodor Innitzer war - gerechnet, zu seinem Zeremoniar bestellte. 1958, als König zum Kardinal kreiert wurde, begleitete er seinen "Chef" nach Rom.

Zwei Jahre später, am 13. Februar 1960, auf der Fahrt nach Zagreb zum Begräbnis von Kardinal Alojzije Stepinac, dem (1998 seliggesprochenen) Erzbischof, hätte ein schwerer Autounfall bei Glatteis zwei Leben auslöschen können: Kardinal König und sein Zeremoniar Helmut Krätzl überlebten: "Zum ersten Mal in meinem Leben war ich mit dem Tod konfrontiert worden - und mit dem beklemmenden Gedanken, dass unser Chauffeur tot war und ich nicht überlebt hätte, wenn ich vorne im Auto gesessen hätte. Fügung? Schicksal?" (21 f.)

Monatelange Krankenhausaufenthalte und Rekonvaleszenzen folgten - und dann plötzlich, ohne Vorankündigung, die Order von Kardinal König, an der Gregoriana in Rom Kirchenrecht zu studieren, was den schon zum Dr. theol. der Universität Wien Promovierten spontan nicht gerade glücklich stimmte. Aber König blieb dabei: "Kirchenrecht kann man immer brauchen"(22).

Rom: Unter einem Dach mit Konzilsperitus Joseph Ratzinger

Schicksalhaft wurde diese Zeit (1960 bis 1963) aus mehreren Gründen: Krätzl wohnte in der "Anima", dem Priesterkolleg der deutschsprachigen Länder in Rom. Dort wohnte, während des im Januar 1959 von Papst Johannes XXIII. angekündigten Zweiten Vatikanischen Konzils (1962 bis 1965) auch der theologische Berater des Kölner Erzbischofs, Kardinal Joseph Frings: Joseph Ratzinger, der Shooting-Star der jüngeren deutschsprachigen Theologen. 40 Jahre später, bei "Schwierigkeiten" Helmut Krätzls mit "Rom", sollte sich diese Bekanntschaft als nützlich erweisen.

Krätzl erlebte das Konzil - "Die größte Wende in meinem kirchlichen Leben und Denken" (25) - aus nächster Nähe: als Konzilsstenograph, an seiner Seite ein anderer junger Priester und Kanonist, Reinhard Lettmann, der spätere langjährige Bischof von Münster in Westfalen: "Neben der für das Konzil schließlich nicht so ergiebigen Arbeit hatte ich Gelegenheit, vieles rund um das Konzil mitzuerleben. Da bot sich für uns ein ganz überraschendes Bild. Viele Theologen, die vorher zensuriert worden waren, vor allem französische und deutsche, tauchten auf einmal auf und waren Berater ihrer Bischöfe. Die Bischöfe hörten auf sie, lernten offenbar die seit ihrer Studienzeit weiterentwickelte Theologie und brachten sie bei der Umarbeitung in die Konzilsvorlagen ein" (26).

Das Erleben des Konzils würde Jahrzehnte später zu einem vielbeachteten Buch führen, das eine Vorladung bei der Glaubenskongregation zur Folge haben sollte.

Pfarrer - Kanzler - Weihbischof

Nach Abschluß des Studiums im Sommer 1963 nach Wien zurückberufen, wurde Krätzl von Kardinal König zunächst die Studentenseelsorge vorgeschlagen - doch er wurde Pfarrer in Laa an der Thaya, für vier Jahre - "für mich eine ganz wichtige Zeit für die Entfaltung meiner Persönlichkeit und für die pastorale Erfahrung" (28).

Der Wiener Diözesansynode (1969-1971), die der Implementierung des Konzils auf Lokalebene diente und zu deren Präsident Erzbischof Jachym ernannt wurde, erlebte Krätzl bereits in neuer Funktion. Kardinal König hatte "sein Regierungskabinett" (29) umbesetzt - er wollte so sicherstellen, daß seine engsten Mitarbeiter die Synode mittragen würden. Jachym wurde zum Generalvikar ernannt, nahm dieses Amt aber nur unter der Bedingung an, daß Krätzl Ordinariatskanzler werde, was zum 1. September 1969 geschah. Krätzl prägte die Synode maßgeblich mit.

In diese Zeit fällt für diesen auch ein "wichtiges theologisch-pastorales 'Damaskus-Erlebnis'"(35): der Umgang mit Geschiedenen Wiederverheirateten und die Suche nach neuen pastoralen Lösungen, zu denen auch Joseph Ratzinger in den 70er Jahren oder die oberrheinischen Bischöfe Oskar Saier, Walter Kasper und Karl Lehmann in den 90er Jahren Wegweisendes entwickelt haben: "Vieles habe ich bis heute dazu selbst publiziert, was mir von manchen Seiten auch Vorwürfe eingebracht hat. Aber ich bin überzeugt, die Kirche muß auch ganz offiziell die Rechtslage ändern, damit sie den Betroffenen das Bild eines Gottes vermittelt, der nicht straft, sondern barmherzig ist und Gelegenheit zu neuen Anfängen gibt"(35).

Die Ernennung zum Weihbischof teilt ihm Kardinal König "im wahrsten Sinn des Wortes 'zwischen Tür und Angel' mit: 'Ich habe Sie und Florian Kuntner jetzt als Weihbischöfe in Rom eingereicht.'" (39) Das war 1977, die Weihe erfolgte im November. Krätzl blieb Kanzler, übernahm zusätzlich Visitationen und erhielt verschiedene Agenden in der Bischofskonferenz. Erwachsenenbildung, Religionsunterricht und Ökumene wurden zu drei Schwerpunkten, jahrzehntelang - Krätzls Kernkompetenz wurde auch außerhalb Österreichs anerkannt und geschätzt. Von 1981 bis 1985 bekleidete er auch die Funktion des Wiener Generalvikars.

Die Vorbereitung des mit dem Österreichischen Katholikentag ("Hoffnung leben - Hoffnung geben") verknüpften Papstbesuchs im September 1983 lag in den Händen von Weihbischof Krätzl. Er wurde im großen und ganzen ein richtiges Fest. Allerdings ist "der Bruch zwischen den reformeifrigen und den konservativen Kräften in Österreich" hier "erstmals ganz offenkundig geworden" (55). Die nachfolgenden Jahre sollten zeigen, daß es um eine markante Richtungsänderung ging.

Von der Reform zur Restauration

Der jahrzehntelang verfolgte Kurs der Öffnung der Kirche hatte wiederholt zu Denunziationen geführt, Dossiers wanderten in den Vatikan: "Es zeigte sich auch, daß verschiedene Kreise die Kirche in Österreich - und damit natürlich vor allem Kardinal König - in Rom kritisierten und offenbar auch Gehör fanden" (55 f.). Die Kurkorrektur, die unter dem bereits von einer beginnenden Krebserkrankung gezeichneten neuen Apostolischen Nuntius Michele Cecchini, der nur schlecht Deutsch sprach, eingeleitet wurde, ist mit den Bischofsernennungen von Hans Hermann Groër und Kurt Krenn für Wien (1986/87), Georg Eder und Klaus Küng für Salzburg und Feldkirch (1989) sowie mit dem neuen Militärbischof Alfred Kostelecky (1986) verbunden. Kardinal Königs Rücktrittsgesuch - er hatte 1980 das 75. Lebensjahr vollendet - wurde 1986 angenommen.

Delikat genug an der Ernennung Groërs war der Umstand, daß dieser - 1942 geweiht - ursprünglich Wiener Diözesanpriester gewesen war, bevor er 1974, also 55jährig, ins Stift Göttweig eingetreten und Benediktiner geworden war, unter anderem aus Protest gegen den Kurs von Kardinal König. Nun folgte er diesem als Erzbischof nach. Die Predigt, die Krätzl nach der Ernennung Groërs bei einer Dankmesse im Stephansdom hielt, ist im Buch abgedruckt (vgl. 58-62).

Was folgte, ist hinlänglich bekannt. 1991 wurde Christoph Schönborn OP, da Kurt Krenn als Diözesanbischof nach Sankt Pölten wechselte, neuer Weihbischof in Wien. 1995, als Mißbrauchsvorwürfe gegen Groër laut wurden, wurde Schönborn Erzbischof-Koadjutor und nach dessen vorzeitigem, mit September 1995 erfolgten Rücktritt, Erzbischof.

Ausführlich beschrieben ist der Ad limina-Besuch der Österreichischen Bischofskonferenz 1987 (vgl. 66-69), während dessen Papst Johannes Paul II. die Gültigkeit der Enzyklika "Humanae vitae" einschärfte. Als Reaktion auf diesen Besuch wandte sich Krätzl in unmißverständlicher Offenheit direkt an den Papst - auch dieser Brief vom 30. September 1987 ist vollständig abgedruckt (vgl. 71-75).

Das Jahr 1994 wurde zum "Schicksalsjahr": Weihbischof Kuntner, mit dem Krätzl eng verbunden war, starb überraschend - die berührende Predigt beim Auferstehungsgottesdienst wurde zur Würdigung eines faszinierenden Lebenswerkes (vgl. 78-83). Gleichzeitig stellte sich die erste ernsthafte Krebserkrankung ein, auf welche 1995 eine zweite folgte.

Der letzte Akt einer synodalen Kirche

Als Folge des Rücktritts von Kardinal Groër hatte sich die Bischofskonferenz "noch einmal zu einem synodalen Vorgang aufgerafft. Der 'Dialog für Österreich' war der Versuch, gesellschaftliche, kirchenpolitische und pastorale Anliegen auf einer breiten Basis zu diskutieren und zu gemeinsamen Ergebnissen zu kommen. Der Mentor und Motor war Bischof Johann Weber, der für die angespannte Situation drei Jahre nach dem Fall Groër und dem Kirchenvolks-Begehren zwei vorzügliche Begabungen mitbrachte: über alle Gräben hinweg Harmonie zu schaffen und gegen den weit verbreiteten Frust gute Stimmung zu machen" (88).

Zu der Tatsache, daß Kardinal Schönborn, seit Frühjahr 1998 Vorsitzender der Bischofskonferenz, just am Tag vor der Delegiertenversammlung, die er hätte leiten sollen, erkrankte, sagt Krätzl: "Ich möchte die Symbolhaftigkeit dieses Vorgangs nicht überstrapazieren" (88). Und tut es damit doch. So kam noch einmal der dialogfähige Grazer Bischof Weber zum Zug.

Doch trotz einer verheißungsvollen Versammlung in Salzburg kam der Dialog hinterher nicht in Gang: "Die Weiterarbeit war schlecht. Anstatt den Dialog mit den Delegierten fortzusetzen, die ein repräsentatives Meinungsspektrum der Kirche in Österreich abgebildet hatten, haben die Bischöfe für die Weiterarbeit ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter selbst ausgesucht. … Der 'Dialog für Österreich' im Oktober 1998 wurde nicht zu einem neuen Aufbruch, sondern kennzeichnete das Ende einer synodalen Ära der katholischen Kirche in Österreich" (89).

Bei einem bald darauf folgenden Ad limina-Besuch der österreichischen Bischöfe kam es zum Eklat, als sich Kurt Krenn übergangen fühlte. Ein im Plenum der Bischofskonferenz abgesegneter Text war von Kardinal Schönborn, Bischof Egon Kapellari (dem stellvertretenden Vorsitzenden) und dem Sekretär der Bischofskonferenz endredigiert worden - ohne Rücksprache mit den Bischöfen. Vor laufenden Kameras meinte Krenn damals in Richtung Schönborn und Kapellari: "Die Lügner sollen das Maul halten" (90).

Ein Leben für Bildung und Ökumene

War der erste Teil des Buches biographisch angelegt (I. Mein Leben als Priester: 9-35, II. Mein Weg als Kanzler und Weihbischof: 37-92), so folgen darauf vier Kapitel, die sich Sachthemen zuwenden und in die Zukunft blicken: "Mein Leben für Bildung und Ökumene" (93-124) sowie "Mein Leben für die Kirche des Konzils" (125-153) und die beiden Abschnitte "Meine Sorge um die Kirche, wie sie ist" (155-183) sowie "Meine Hoffnung für eine Kirche, die Zukunft hat" (185-203).

Man erfährt über Krätzls Tätigkeit in der Erwachsenenbildung, zu denen die traditionsreichen Wiener Theologischen Kurse, der theologische Fernkurs, die kirchlichen Bildungshäuser und die Bildungswerke der Bischofskonferenz gehören. Was in den 60er- und 70er Jahren innerhalb der Bischofskonferenz größtenteils konsensual ablief, erzeugte mit den neuen Gesichtern Spannungen - das Klima hatte sich "verschärft" (94), einzelne Veranstaltungen wurden bei einzelnen Bischöfen angezeigt, Krätzl mußte verteidigen: "Einwände bezüglich der theologischen Linien kamen fallweise auch von Kardinal Christoph Schönborn" (94).

Für den Deutschen Katecheten-Verein (DKV) war Krätzl ein geschätzter Gesprächspartner. Sein Standing als "Schulbischof" (1978-1998) in der Österreichischen Bischofskonferenz hingegen wurde zunehmend schwieriger, da in Österreich Lehrpläne und Schulbücher nicht (wie in Deutschland) Ländersache sind, sondern in die Kompetenz des Bundes fallen und deswegen von der Bischofskonferenz approbiert werden müssen. Bischöfe wie Georg Eder oder Kurt Krenn bemängelten oft Kleinigkeiten. Paradoxerweise fand Krätzl bei Kardinal Groër Unterstützung (vgl. 105) - Groër hatte jahrzehntelang als Religionslehrer gearbeitet - während Kardinal Schönborn später in der Lehrplandebatte 1999 zusammen mit seiner Schulamtsleiterin gegen seinen Weihbischof auftrat (vgl. 112 f.): "Von Groër unterstützt, von Schönborn alleingelassen" (103). Krätzl trat zurück.

Ein anderer Schwerpunkt im Leben und Wirken Helmut Krätzls war und ist die Ökumene, für die Wien ein Schmelztiegel ist. Krätzl prägte den Ökumenischen Rat der Kirchen ebenso mit wie viele andere Gremien, besonders auch mit den orthodoxen Kirchen (z. B. "Pro Oriente"): "So gesehen ist Österreich auch ein Vorbild einer multilateralen Ökumene sowohl zu den Kirchen des Ostens als auch des Westens im Gegensatz zu Deutschland, wo sich Ökumene zu einseitig den Kirchen aus der Reformation zugewandt hat" (114).

Die Kirche des Konzils

Spannend ist das Kapitel "Mein Leben für die Kirche des Konzils" nicht nur wegen verschiedener Andeutungen über unterschiedliche Konzilsverständnisse unter den Bischöfen - insbesondere das so unterschiedliche Konzilsverständnis von Kardinal Schönborn (vgl. 125-) -, sondern auch deswegen, weil man Hintergründe um Krätzls vielfach aufgelegtes Konzilsbuch "Im Sprung gehemmt"3 erfährt. Es hatte eine Rom-Reise zur Folge und die Begegnung in der Glaubenskongregation ist ausführlich geschildert ("Das römische Dossier": 133-138; "Die Vorladung": 138-150): "Das Buch wurde für mich nahezu schicksalshaft, weil es eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit Rom nach sich zog" (125). Dort, im Palazzo del Sant'Uffizio, verdichtete sich bei Krätzl im Lauf des Gesprächs der "Eindruck, daß es Kardinal Schönborn gar nicht so unrecht war, die genannten Vorwürfe im Namen Roms gegen mich vorbringen zu können" (136).

Das Dossier zu Krätzl umfaßte 53 Seiten mit sechs Expertisen von theologischen Gutachtern und vier kongregationsinternen Stellungnahmen. Knapp vor dem Besuch in Rom Ende Januar 2003 war noch ein zehnseitiger "Verriß" des Buches ("Wahre und falsche Reform") durch Kardinal Leo Scheffzyk in "Forum Katholische Theologie" (4/2002) erschienen. Doch die Sache ("Kritische Gutachter und Kardinal Ratzinger als Freund") endete gütlich. Ratzinger auf Krätzls Feststellung, er freue sich, ganz offen reden zu dürfen: "Wir sind doch alte Freunde"(144) - eine Erinnerung an gemeinsame Zeiten in der Anima während des Konzils.

Krätzl ist der festen Überzeugung, daß das Konzil noch der weiteren Aufarbeitung bedarf und ist deswegen strikt gegen ein Drittes Vatikanum (vgl. auch 180-183).

Sorgen und Hoffnungen

Im vorletzten Kapitel kommen in fünf kurzen Interviews gesprächsweise sogenannte heiße Eisen zur Sprache: Gemeinden ohne Priester, Priester ohne Amt; Religionsunterricht, Formung, Wallfahrt - und dann Kirchenaustritt? ("Wir müssen erkennen, daß wir an so manchem Austritt selbst schuld sind", 164); Der dreifache Vertrauensverlust der Kirche; Wiederverheiratete Geschiedene - ein unlösbares Pastoralproblem?

Im Blick auf den eingeschlafenen "Dialog für Österreich" sieht Krätzl "in Österreich keinen Vorgang, der auch nur annähernd diese Dialogkultur fortgeführt hätte" (165). In puncto Sexualität müsse die Kirche Vertrauen zurückgewinnen und habe eine "alte Bringschuld …, sich von der Hypothek der Leibfeindlichkeit zu lösen" (169). Außerdem sei das "horizontale Schisma" zwischen Kirchenleitung und Kirchenvolk "offensichtlich da, es ist aber theologisch und kirchenpolitisch unerträglich" (172).

Typisch für den Seelsorger Helmut Krätzl sind seine Kirchenvisionen: "Die Verkündigung der Kirche darf nicht von der Lehre her beginnen, sondern muß zuallererst den Menschen aufmerksam und ehrfurchtsvoll in den Blick nehmen" (186). Auch "Fernstehenden, 'Entlaufenen', Ausgetretenen, Dissidenten" dürfe man das "Sentire cum ecclesia" "nicht voreilig absprechen" (196). Mit dem Frankfurter Dogmatiker Medard Kehl SJ ist für Krätzl die Kirche eine "Zu-Gabe" zum Reich Gottes, aber nicht mit diesem identisch - was vieles ertragen oder in Kauf nehmen lasse, das stört bzw. stören kann. Kirche kann immer "mehr" werden!

Ein Vermächtnis

Helmut Krätzls Rück-Blick enthält viele brisante Details, nicht zuletzt deswegen, weil er unerschrocken hinter die Kulissen blicken läßt - gewiß zu schonungslos in den Augen mancher, wohingegen andere für diese Offenheit dankbar sein werden4. Es ist nicht die Bilanz eines frustrierten zornigen Alten, der sich übergangen fühlt, weil er bei einer wichtigen Personalie nicht zum Zug gekommen ist - auch wenn ihm das einige partout nicht abnehmen wollen. Weil aber Schweigen (zwangsweise) oft als Zustimmung interpretiert wird, wollte er Einblick geben und zeigen, daß sehr wohl Stellung bezogen wurde zu verschiedenen Vorgängen und Themen, auch wenn das bisher nicht immer sofort an die Öffentlichkeit geraten ist. Mehrere Predigten, Texte und Dokumente - die bisher so einer breiteren Öffentlichkeit nicht zugänglich waren - belegen dies zusätzlich. So hat man hier auch ein zeit- und kirchengeschichtliches Dokument vor sich - und mehr als das: einen eigenständigen Blick auf eine Periode der Geschichte der Kirche Österreichs und zugleich das Glaubensbekenntnis eines Bischofs. Es gilt, was bereits im März 1999 in dieser Zeitschrift über ihn zu lesen stand: "Krätzl sagt, was er denkt, und er denkt, bevor er etwas sagt" (213 f.).

Daß "die Chemie" mit den Kardinälen Groër und Schönborn eine andere war bzw. ist als mit Kardinal König, liegt in der Natur der Sache und ist in persönlichen Beziehungen begründet. Mit dem oft sehr distanziert wirkenden Kardinal König gab es durchaus die eine oder andere Meinungsverschiedenheit - als dieser etwa mit dem Vorbereitsungsteam nach erfolgtem Papstbesuch nach Rom fuhr, wurde Krätzl schlichtweg "vergessen" ("Ich war nicht eingeladen, so weiß ich auch nicht, was dort gesprochen wurde", 54).

"In den vielen Priester- und Bischofsjahren habe ich die 'erste Liebe' zur Kirche nie verloren, sondern Kirche sogar immer mehr in einer neuen Form lieben gelernt" (7), heißt es im Vorwort. In einem ausführlichen Interview mit Otto Friedrich, Ressortleiter Religion, Medien, Film der österreichischen Wochenzeitung "Die Furche" antwortet Krätzl auf die Frage, warum er trotz seiner Einschätzung, die Kirche habe ihren Platz in der säkularen Gesellschaft noch nicht gefunden, noch an seinen Träumen festhalten könne: "Weil ich in meiner langen Lebenszeit so viel Veränderung in der Kirche miterlebt habe. Diese Veränderungen haben immer etwas Neues gebracht. … Ich sehe auch heute die Erneuerung von der Basis her. Denn die kommt meist von dort - und nicht von oben."5

Am 23. Oktober 2011 vollendet Helmut Krätzl sein 80. Lebensjahr. Die gesamte Redaktion wünscht6: Ad multos annos!

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