Glaube und GeschichteZu drei Zeitschriftenbeiträgen über das Zweite Vatikanische Konzil

Im Verlaufe des Jahres 2012 ist in einer Vielzahl von Zeitschriften schwerpunktmäßig an das vor fünfzig Jahren begonnene Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) erinnert worden. Im Folgenden soll auf drei Beiträge aufmerksam gemacht werden, die in der amerikanischen Zeitschrift "Theological Studies" erschienen sind. Dabei zeigen die drei Autoren wie die von ihnen behandelte Thematik ein gemeinsames Interesse: Alle drei resümieren den in ihren Fachgebieten erreichten Wissensstand und fragen, welche Relevanz diese Einsichten für ein vertieftes Verständnis des Zweiten Vatikanischen Konzils haben können.

I.

Der amerikanische Kirchenhistoriker John W. O'Malley SJ bezeichnete in seiner Monographie über das Zweite Vatikanische Konzil das 19. Jahrhundert als "das lange Jahrhundert"1. Er hat dabei den Zeitraum von der französischen Revolution bis zu den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts im Blick; er beschreibt ihn als eine Epoche, während der sich die katholische Kirche den Herausforderungen der Moderne weitgehend versagt hat. Gleichzeitig erweisen sich jene Jahrzehnte als eine Inkubationszeit, in der sich Veränderungen allmählich vorbereitet haben, die dann in den sechziger Jahren voll zum Tragen kamen.

Auf dem Hintergrund der Erfahrungen mit dem "langen 19. Jahrhundert" gewinnt O'Malleys historische Analyse des Begriffs "Reform" seine Tiefenschärfe2. Als Yves Congar OP 1950 sein Buch "Vraie et fausse réforme dans l'église" publizierte, stellte er fest, dass ein "Fluch" über dem Wort Reform zu schweben scheine. Eine Neuauflage und Übersetzungen des Buches in andere Sprachen wurden vom Heiligen Offizium (der heutigen Glaubenskongregation) sehr schnell verboten; der Autor wurde einer römischen Vorzensur unterworfen, obwohl er es vermieden hatte, von einer Reform der Kirche zu sprechen. Stattdessen formulierte er zurückhaltend "Reform in der Kirche". Gleichwohl wurde seine Methode, Lehre und Praxis der Kirche mit historischen Prozessen in Verbindung zu setzen und daraus Schlüsse zu ziehen, als gefährlich angesehen.

Fünfzehn Jahre später wird das Wort "Reform" an prominenter Stelle in der Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils über den katholischen Ökumenismus "Unitatis redintegratio" verwendet, wenn in deren zweiten Kapitel formuliert wird: "Jede Erneuerung [omnis renovatio] der Kirche besteht wesentlich im Wachstum der Treue gegenüber ihrer eigenen Berufung, und so ist ohne Zweifel hierin der Sinn der Bewegung in Richtung auf die Einheit zu sehen. Die Kirche wird auf dem Wege ihrer Pilgerschaft von Christus zu dieser dauernden Reform [ad hanc perennem reformationem] aufgerufen, deren sie allzeit bedarf, soweit sie menschliche und irdische Einrichtung ist."

Zwar ist es die einzige Stelle in den sechzehn vom Konzil verabschiedeten Dokumenten, in denen das Wort Reform (reformatio) bezogen auf die Kirche gebraucht wird; an den übrigen acht Stellen, in denen es vorkommt, wird es verwendet, um Reformen im gesellschaftlichen und politischen Bereich zu bezeichnen. Stattdessen wird in den Konzilstexten das Wort Erneuerung (renovatio) vorgezogen; 64 Mal wird es auf die Kirche bezogen gebraucht.

Für O'Malley ist dieser neu eingeführte Sprachgebrauch die Folge eines tiefgreifenden Umbruchs, wie die Kirche sich selber und die Welt während des Konzils wahrzunehmen beginnt. Er zeigt dies in einem Rückblick auf die Kirchengeschichte: Der Begriff der Reform (reformatio), der seit dem Vierten Laterankonzil (1215) und dem Konzil von Konstanz (1414-1418) zu einem Schlüsselbegriff ("Reform an Haupt und Gliedern") geworden war, mit dessen Hilfe die Kirche ihre Identität zu bestimmten versuchte, war in der nachtridentinischen Konfessionalisierung des Christentum für die römisch-katholische Kirche obsolet geworden. Im Kontext der Kontroversen um Martin Luthers Ablass- und Kirchenkritik sowie den Reformationsbewegungen in Zürich und Genf hat sie den Begriff der Reform den sich neu bildenden Konfessionen überlassen, und damit auf ein innovatives Instrument zur Selbstreflexion verzichtet.

Mit John Henry Newmans Überlegungen zur Entwicklung des Dogmas und dem Aufbruch der historischen Wissenschaften im 19. Jahrhundert begann für O'Malley innerhalb der katholischen Kirche eine vorsichtige Neubewertung des historischen Wandels. Dabei war die Perspektive vor allem darauf gerichtet, wie der jeweilige aktuelle Status quo erreicht worden war, um ihn auf diese Weise zu rechtfertigen. Erst in einem weiteren Schritt kam die Einsicht zum Tragen, den historisch erkannten Wandel nicht nur affirmativ zu konstatieren, sondern auch als einen kritischen Maßstab zur Beurteilung von positiven wie negativen Entwicklungen zu verwenden. Die im französischen Sprachbereich geprägte Formulierung ressourcement("Rückkehr zu den Quellen") rückte vor allem die Herkunftsgeschichte als Maßstab des Urteils in das Zentrum, während der aus der italienischen Sprache stammende Ausdruck Aggiornamento den Nachdruck auf die jeweils aktuellen geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontexte lenkte, die für die Notwendigkeit von Veränderungen sprechen.

O'Malley weist darauf hin, dass beide Vorstellungskomplexe auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil für das Selbstverständnis der Konzilsväter eine entscheidende Rolle gespielt haben. Johannes XXIII. gebrauchte Aggiornamento, um damit in der Eröffnungsrede vom 11. Oktober 1962 sein Programm zu kennzeichnen. Im einleitenden Abschnitt der Konstitution über die Heilige Liturgie wird die vom Papst geforderte Erneuerung zum ausdrücklichen Gegenstand eines Konzilstextes gemacht: "Das Heilige Konzil hat es sich zum Ziel gesetzt, das christliche Leben unter den Gläubigen mehr und mehr zu vertiefen [augere], die dem Wechsel unterworfenen Einrichtungen den Notwendigkeiten unseres Zeitalters besser anzupassen [melius accomodare], zu fördern, was immer zur Einheit aller, die an Christus glauben, beitragen kann, und zu stärken, was immer helfen kann, alle in den Schoß der Kirche zu rufen. Darum hält es das Konzil auch in besonderer Weise für seine Aufgabe, sich um Erneuerung und Pflege der Liturgie [instaurandam atque fovendam] zu sorgen."

Die Sprache von Erneuerung und Anpassung prägt durchgehend die Sprache des Konzils. O'Malley weist darauf hin, dass die lateinischen Äquivalente für "Entwicklung" (evolutio und evolvo) 42 und für "Fortschritt" (progredior, progressio und progressus) 120 Mal vorkommen. In der Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" werden diese Ausdrücke ausdrücklich verwendet, um die Beziehungen der Kirche zu gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen zu beschreiben. Die Sprache der Reform ist im Zweiten Vatikanischen Konzil allgegenwärtig.

Aus diesem Grunde schlägt O'Malley vor, den konziliaren Sprachgebrauch bei der Interpretation der einzelnen Konzilstexte ernst zu nehmen: Die Notwendigkeit und die Forderung nach Veränderung müsse zur grundlegenden Perspektive der Lektüre gemacht werden.

O'Malleys Vorschlag hat weitreichende Konsequenzen für den Umgang mit den Konzilsbeschlüssen. Ormond Rush und Massimo Faggioli machen dies in ihren, gleichfalls letztes Jahr in den "Theological Studies" veröffentlichten Beiträgen deutlich.

II.

Für Ormond Rush, in Brisbane (Australien) lehrender systematischer Theologe, kommt bei der Verwendung der Ausdrücke Aggiornamento und Ressourcement eine Differenz zum Ausdruck, mit der produktiv umzugehen sei3. Zwar werde beim ersten der Akzent auf den "Blick nach vorne" gelenkt, während der zweite die Herkunftsgeschichte ins Zentrum rücke. Rush ist es aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass diese Differenzierungen nicht nach dem Schema von Kontinuität versus Diskontinuität aufzulösen seien. In beiden Fällen geht es nämlich um Veränderungen, wird ein Wechselverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität vorausgesetzt. Mit diesem Einwand spielt Rush auf die bis heute andauernde Kontroverse an, die Papst Benedikt XVI. mit seiner Weihnachtsansprache vom 22. Dezember 2005 ausgelöst hatte, als dieser die Unterscheidung zwischen einer "Hermeneutik der Kontinuität" und einer "Hermeneutik der Diskontinuität" für die Interpretation des Zweiten Vatikanischen Konzils ins Spiel brachte.

In diesem Zusammenhang erinnert Rush an eine, für die Dynamik des Konzils wichtige Episode. Nachdem der erste Entwurf für eine Konstitution über das Verhältnis von Schrift und Offenbarung im November 1962 mit grosser Mehrheit abgelehnt worden war, begann die mühsame Arbeit an einem neuen Text. Es dauerte bis zur vierten (letzten) Sitzungsperiode 1965, bis die Redaktion eines neuen Textes, nämlich die Konstitution über die Offenbarung "Dei verbum" verabschiedet werden konnte.

Während dieses langen Zeitraumes liefen die Diskussionen über die 15 anderen Texte weiter. Rush weist darauf hin, dass zwischen den parallel laufenden Arbeiten eine Vielzahl von Interaktionsprozessen zu beobachten seien. Die von einer Redaktionsgruppe im Rahmen ihrer Beratungen gewonnen neuen Einsichten wurden von anderen zur Kenntnis genommen und rezipiert. Dieser Vorgang war ein wechselseitiges Geben und Nehmen. Rush stützt sich für seine Feststellung auf eine Beobachtung von Giuseppe Alberigo: "Von der aktiven Beteiligung der Gläubigen am Gottesdienst und am kirchlichen Leben, vom Verständnis der nicht mit dem Reich Gottes zu verwechselnden Kirche als 'Mysterium', von der Wiederentdeckung des 'Volkes Gottes' und der 'communio' zwischen den Kirchen und ihren Bischöfen bis hin zur Ausweitung der Sicht der communio auf alle christlichen Traditionen und zur Wertung der unter den Bedingungen der Pilgerschaft lebenden christlichen Gemeinschaft in der Welt hat das Konzil die Voraussetzungen für eine Überwindung der Ekklesiozentrik und damit auch für eine Relativierung der Ekklesiologie selbst geschaffen."4

III.

Obwohl Rushs eigentliches Thema die Frage ist, wie eine kohärente Interpretation der Konzilsdokumente geleistet werden kann, erweist sich sein Artikel unter der Hand als ein Plädoyer für eine Analyse des Konzils als "eines Ereignisses". Massimo Faggioli, in Bologna ausgebildeter und jetzt in St. Paul/Minnesota lehrender Kirchenhistoriker5, widmet sich in seinem Beitrag dieser Fragestellung. Nachdem die Edition der Konzilsakten abgeschlossen war, hat die historische Forschung der letzten zwanzig Jahre eine Vielzahl neuer Quellen zugänglich gemacht und zur Kenntnis genommen: Neben den nun im Vatikanischen Geheimarchiv zugänglich gemachten Archivbeständen der einzelnen Konzilskommissionen sind es vor allem Akten und Nachlässe aus kirchlichen und privaten Archiven von Konzilsvätern, Konzilstheologen, Journalisten und den eingeladenen Beobachtern der anderen Kirchen.

Die Ausweitung der Dokumentenmenge macht nur die eine Seite der neuesten Forschung aus. Ebenso wichtig ist, dass sich im Fortgang der Arbeiten an der fünfbändigen Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils im Rahmen des "Istituto per le scienze religiose" in Bologna die von Giuseppe Alberigo vorgeschlagenen hermeneutischen Prinzipien als fruchtbar erwiesen haben:

Erstens: Das Konzil ist nicht nur die Summe seiner verabschiedeten Texte. Gleichzeitig stellt es ein historisches Ereignis dar, mit dessen Hilfe die Kirche ein neues Selbstverständnis gewonnen hat. Gleichzeitig war das Konzil für die Konzilsväter auch ein liturgischer Vorgang.

Zweitens: Mit seiner Entscheidung, ein Konzil einzuberufen und den Leitlinien, die er in seiner Eröffnungsansprache vom 11. Oktober 1962 vorgelegt hatte, ist die Person und das Amtsverständnis von Johannes XXIII. ein entscheidender Faktor zum Verständnis des Konzils.

Drittens: Der "pastorale Charakter" des Konzils erwies sich nicht nur als ein grundlegendes Prinzip für die Konzilsberatungen sondern auch für die Rezeption. Damit ist der Wille, dass für die Verkündigung der Kirche der Kontext der angesprochenen Menschen konstitutiv dazu gehört, zur verbindlichen Regel der Glaubenssprache geworden.

Viertens: In Korrelation zum "pastoralen Charakter" ist auch das Aggiornamento zu verstehen, insofern darin der Zeitindex einer Aussage zum Tragen kommt.

Fünftens: Schließlich sind die Konzilstexte als Ergebnisse eines vielschichtigen und oft konfliktreichen Entstehungsprozesses zu interpretieren. Den beteiligten Partnern ging es nicht darum, ihre jeweilige Position durchzusetzen, sondern untereinander einen Konsens im Verständnis des Glaubens zu finden.

Die mit dem Bologneser Projekt der "Geschichte des Zweiten Vatikanischen Konzils" angestrebte Verbindung von Konzilshermeneutik und historiographischer Forschung stellt nach der Analyse von Massimo Faggioli nicht nur eine bedeutsame kirchengeschichtliche Leistung dar. Sie stellt erneut das Verhältnis von Glaube und Geschichte in das Zentrum der aktuellen Konzils-Erinnerungsfeiern. Der Begriff der "Reform" zeigt sich damit als Begriff, mit dessen Hilfe ein geschichtliches Ereignis beschrieben werden kann. Gleichzeitig enthält er einen normativen Kern.

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