Wie die Kirche an ihrer Sprache verrecktErik Flügge zeigt sich besorgt über den Jargon der Betroffenheit

„Wer liest denn sowas?“ Viele, die dieses Buch bei mir liegen sahen, hatten davon gehört, sie waren neugierig oder wurden neugierig - und zeigten, je nachdem, verhaltene Zustimmung, oder aber sie rümpften die Nase. Erik Flügge: ein Besserwisser? Oder vielleicht einer, der irgendeinen biografischen Grund hat, verbal auszurasten?

Beim Lesen war ich an Erich Frieds Aphorismus „Sprachgebrauch der Erwachsenen“ erinnert: „Wenn ihnen etwas zu nahe geht, rufen sie: Das geht zu weit!“

Es ist wohl auch hier wie bei Heideggers „Sein und Zeit“ oder bei „Hörer des Wortes“ von Karl Rahner SJ: Man kennt manche Bücher mehr dem Titel als dem Inhalt nach. „Der Jargon der Betroffenheit“ - das erregt Aufmerksamkeit. Und erst der Untertitel: „Wie Kirche an ihrer Sprache verreckt“ 1. Ein Hingucker! Damit verbunden die Frage: Sind meine Helden und Vorbilder auch so? Falle ich selber unter dieses Verdikt?

Erwischt?

Ich muss gestehen: Schon am Sonntag, nachdem ich das Buch gelesen habe - eine rasche Lektüre, das Buch ist flott geschrieben, es weckt Neugierde, es löst Aha-Erlebnisse aus, flacht aber im hinteren Teil etwas ab - fragte ich mich während eines Gottesdienstes: Wirkst du so auf Zuhörer? Oder hast du einmal so auf Besucher gewirkt? Bin ich da schon in die Betroffenheitsfalle getappt, weil ich mich erwischt fühle?

Ich habe noch in den Ohren, wie sich Kollegen aufgeregt haben über die Passagen in dem (für mich: prophetischen) Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ von Papst Franziskus, in denen er auf das Predigen zu sprechen kommt (vgl. EG 135-159). Sie wurden von manchen als ungebührliche Einmischung betrachtet.

Da war zu lesen: „Die Homilie ist der Prüfstein, um die Nähe und die Kontaktfähigkeit eines Hirten zu seinem Volk zu beurteilen.“ (EG 135) Oder: „Wer predigt, muss das Herz seiner Gemeinde kennen, um zu suchen, wo die Sehnsucht nach Gott lebendig und brennend ist und auch wo dieser ursprünglich liebevolle Dialog erstickt worden ist oder keine Frucht bringen konnte.“ (EG 137) Dass die Predigt „keine Unterhaltungs-Show“ sein dürfe, weil sie „nicht der Logik der Medien entspricht“ (EG 138), stieß bei manchen genauso auf wie die Bemerkung, Predigten sollten „kurz sein“ und „vermeiden, wie ein Vortrag oder eine Vorlesung zu erscheinen“ (EG 138). Gleichzeitig empfahl der Papst, sich gut vorzubereiten, auf menschliche Erfahrungen einzugehen („Kommentare zur Wirklichkeit“: EG 155), nicht abstrakt dahin zu dozieren: „Der Prediger muss auch ein Ohr beim Volk haben, um herauszufinden, was für die Gläubigen zu hören notwendig ist.“ (EG 154)

Höre ich beim Papst hin - und bei Erik Flügge nicht?

Am Anfang: Zorn auf die Kirche

Auf der Website von Erik Flügge liest man: „Ich bin politischer Stratege mit eigenem Unternehmen. Gemeinsam mit meinem Team berate ich Ministerpräsidenten, Fraktionen und Parteien. Wir mobilisieren Menschen und gewinnen Wahlen. Unsere Fahnen färben wir in Rot und Grün.“ Und weiter: „Ich gehörte nie zu den wirklich lockeren Menschen, die fröhlich und mit Passion Feste feiern. Ich denke viel zu gerne nach. Nicht unbedingt entlang althergebrachter Linien, sondern quer, auf dem Kopf und manchmal neu. Ein Schöngeist vielleicht, dennoch!“ 2

Aha! Manche werden denken: Schade, dass der Mann, der einmal Theologie studierte, umgesattelt hat. Mehr Geld macht er sicher in seinem jetzigen Beruf. Aber er hängt trotzdem an der Kirche, irgendwie, am Anfang stand ja eine Erregung: „Zorn auf eine Kirche, die ich packen und schütteln möchte, damit sie sich endlich nicht mehr so verhält, wie ich es kaum ertrage.“ (159) Mit einem Blogbeitrag (vgl. 9 f.) hatte Flügge eine breite Debatte losgetreten, und die führte zu dem späteren Buch, dessen Entstehung eher „ein Zufall“ ist: „Dieses Buch erinnert mich an etwas, was ich schon lange weiß: Die guten Seiten der Kirche überwiegen.“ (159)

Wer sich auf den Seiten davor nicht grün und blau ärgert, abwehrt oder abwiegelt, liest am Ende immerhin, dass der Autor die Kirche „neu entdeckt“ hat: „Ich habe mit vielen Theologinnen und Theologen gesprochen und habe stets sehr selbstreflektierte Menschen getroffen. […] Sie werden kaum in anderen Organisationen so vielen Menschen begegnen, die mit dem hadern, was sie erleben und tun und dennoch die Treue halten.“ (160) Auf das „Dennoch“ kommt es also an - das „Lieblingswort“ von Erik Flügge: „Es drückt alles aus, was man über die Kirche sagen kann. Allem zum Trotz, ist die dennoch gut.“ (160)

Zu so einem Bekenntnis ringt sich einer nur durch, wenn er zuvor kritisch war. Für Leser gilt: Man darf nicht zimperlich sein.

„Einheitsbrei, der keinem weh tut?“

Am Anfang stand also ein Blog. Die schonungslose, wenig charmante Analyse des Strategieberaters: „verschrobene, gefühlsduselige Wortbilder“, „in den Achtzigern hängen gebliebene Fragen nach dem Sein und dem Sinn“ (9). Und: „Sobald ihr für eure Kirche sprecht, klingt’s plötzlich scheiße“ - daher der konkrete Vorschlag: „Sprecht doch einfach über Gott, wie ihr bei einem Bier sprecht.“ (10)

Das hat eingeschlagen. Stammtisch-Rhetorik? Empörung ist oft nur Ausdruck dafür, dass einer wohl auch Recht hat. Die fünf Teile des Buches lauten demzufolge schlicht: Zorn - Angst - Schweigen - Nähe - Hoffnung.

Eine Erwartung ist klar formuliert: „Ich will sie hören, die Predigten, die christliche Substanz, rhetorische Brillanz und Relevanz vereinigen. Ich suche sie, die Predigten von heute, die Wirkmacht entfalten.“ (12) Und: „Ich will mehr hören als die Zitate der Vergangenheit. Ich will in der Tagesschau den Bischof sehen, der nicht vor sich hin eiert, sondern mit einer Zeile jeden Bildschirm sprengt.“ (13)

Zorn entlädt sich in der Beobachtung, dass „man in der Vergangenheit nach relevanten Zitaten (sucht)“ (14); dass oft „Sätze“ fallen, „in denen viel zu oft die Verben fehlen. Um dieser sinnlosen Aneinanderreihung von Banalitäten noch irgendeinen inneren Zusammenhang zu geben, wird in jedem Satz ein Wort des voraus gegangenen Satzes aufgegriffen, damit der Text nicht komplett in Fragmente zerfällt.“ (15)

Die spannende Frage ist die nach der Relevanz. Wie kann, wie will Kirche Relevanz entwickeln? „Der Verlust formaler Macht der Institution Kirche“, so Flügge, „wird mit dem Versuch kompensiert, Betroffenheit auszulösen.“ (44) Bedrückend wirkt auf mich die Antwort eines Freundes auf die Frage, warum theologische Sprache oft so fremd klingt: „Es soll etwas mit Wichtigkeit aufgeladen werden, wohinter man selbst nicht steht.“ (48) Das produziere „das denkbar unambitionierteste Sprechen oder, noch schlimmer, das lange Reden um den heißen Brei“ (49). Ergo: „Das Resultat sind allerorten abgeschliffene Sätze, die keine klaren Thesen mehr erkennen lassen. Keine Ecken, keine Kanten, schlicht Einheitsbrei, der keinem weh tut.“ (54)

Relevanz erzeugen - und Emotionen

Flügge sagt: Theologie braucht den Mut „aufzufallen - auch negativ“ (55). Demgegenüber wirkten viele Predigten oder auch das „Wort zum Sonntag“ zu bemüht: „Relevanz erzeugt man nicht mit Banalität, sondern damit, das richtige Timing zu haben und möglichst nah an das heranzurücken, was die Zuhörerinnen und Zuhörer im Kopf haben.“ (69) Dafür könne es nützlich sein, Tages- und Online-Zeitungen, aber auch Boulevardzeitungen zu studieren.

Der zweite Ratschlag betrifft Emotionen: „Wer beim Sprechen andere erreichen will, der darf keinen Einheitsmatsch präsentieren.“ (70) Und: „Wer sich hier wirklich treu bleiben will, sollte über das predigen, was einen wirklich empört, wirklich begeistert, wirklich in Freudentaumel versetzt. Die eigene Emotion soll ganz nach außen gekehrt werden - beinahe übergriffig stark.“ (71)

„Mehr Tiefgang erleben“

Auch so ein flotter Spruch: „Ich werde beim Sprechen von Gott vom Prediger wie ein Kleinkind durch einen Gedankenraum geführt. Ich fühle mich nicht ernst genommen. Wenn Gott so kurz gesprungen denkt, wie er verkündet wird, dann wundert mich nichts mehr in der Welt. Ich würde gern mehr Tiefgang erleben, ich höre Texte, die auch auf ein Küchenkalenderblatt passen würden.“ (110)

Immer wieder streut Flügge auch persönliche Erlebnisse ein. Sie machen deutlich: Er kennt vieles von innen. Von außen kommend, erlebt er sich in einem Gottesdienst nicht „schlicht nur angeschaut und ignoriert“ (139), deswegen die Fundamentalkritik: „Das gesamte System Gottesdienst interessiert sich nicht für die Menschen, die daran teilnehmen.“ (140) Ist das wirklich und überall so?

Hoffnung: eine neue Sprache

„Man kann in unserer Kirche zu Hause sein“ (147) - endlich eine Hoffnungsperspektive! Dickes Lob für Papst Franziskus, der „die Bedeutung der Oberflächen verstanden“ habe: „Ein neuer Auftritt von Kirche muss sich auch im Sprechen ausdrücken. Lassen Sie das nächste Mal einfach die belanglose Geschichte weg, wenn Sie predigen. Sagen Sie einfach, was Sie sagen wollen, so wie sie es einem Freund sagen würden. Sie wären überrascht, was sich plötzlich verändern kann. Denken wir die Kirche neu, sie hat eine passende Oberfläche zu ihrem liebenswerten Inhalt verdient.“ (157) - Das könnte tatsächlich Papst Franziskus gesagt oder geschrieben haben!

Davon lernen? 

Auf dem Katholikentag in Leipzig im Mai wurde Erik Flügge interviewt. Das Internetportal ‹katholisch.de› leitet das Gespräch ein mit der Bemerkung: „Der Strategieberater Erik Flügge weiß, wie man Kompliziertes ganz einfach ausdrückt. Er weiß aber auch: Die Kirche kann es einfach nicht.“ Es lohnt, in das Interview hineinzuschauen. Es kann eigene Leseeindrücke ergänzen.3 Der Kölner Priester Peter Seul, Dozent für Homiletik und bis 2015 Mitglied in der Jury des ökumenischen Predigtpreises tätig, hat das Buch für ‹katholisch.de› ausgewertet. Sechs Thesen sind formuliert - auch diese Lektüre lohnt4!

Erik Függes Beobachtungen stören. Aber es steckt etwas dahinter. Mokiert er sich über die unbeholfene Sprache vieler Verkündiger? Bevor man ein Buch wie dieses reflexartig ablehnt, sollte man es lesen. Auch wenn es streckenweise ratlos zurücklässt. Möglicherweise lässt sich davon lernen.

Trotzdem: Seelsorge ist nicht nur Predigt. Es gibt begnadete, empathiefähige Seelsorger, die sich beim Predigen schwer tun. Aber sie sind da - und spiegeln mit ihrer Art und Weise auch etwas von dem wieder, was an Jesus erinnert. Das ist nicht wenig.

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